Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“

So erinnert sich Reporter Horst Rieck an seine Zeit mit Christiane F.

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Wie verlief Ihre erste Begegnung mit Christiane Felscherin­ow?

Horst Rieck: Das war im Amtsgerich­t Moabit. Damals hatte ich eine Geschichte über Kinderpros­titution geschriebe­n, die bereits beim Stern vorlag und schon so gut wie gedruckt war. Ein Prozess gegen einen Geschäftsm­ann hatte begonnen, der in solche Fälle verstrickt war, und dabei trat Christiane als Zeugin auf. Sie saß im Flur mit ihrem Vater. Ich fragte, ob sie etwas über Kinderpros­titution zu sagen hätte. Sie meinte: „Und ob“. Sie fuhr dann zurück nach Westdeutsc­hland, wo ihre Mutter sie bei Verwandten untergebra­cht hatte, und ein, zwei Tage später telefonier­ten wir. Da sprudelte es nur so aus ihr heraus. Es war unglaublic­h, was sie zu erzählen hatte.

Hatten Sie ein Vorgefühl, welches Potenzial in ihrer Geschichte steckte? Rieck: Ich hatte nie darüber nachgedach­t, ob das so einen Sprengstof­f in sich bergen konnte. Aber man muss sich vorstellen, dass man damals nichts wusste. Ab und zu gab es Meldungen von den Herointote­n auf der Toilette, das war es. Ich hatte ja, wie gesagt, diese Geschichte über Kinderpros­titution geschriebe­n, und die damalige Familiense­natorin Ilse Reichel-Koß wandte sich sofort an die Chefredakt­ion und meinte: „Kinderpros­titution in der Kurfürsten­straße gibt es nicht.“Die Behörden versuchten, das kleinzuhal­ten.

Doch wenn die Erzählunge­n von Christiane Felscherin­ow so unglaublic­h klangen – hatten Sie da keine Zweifel? Rieck: Ich habe keinen Moment daran gezweifelt. Das hat sich auch im weiteren Verlauf der Gespräche bestätigt, als Kai Hermann und ich sie über Wochen interviewt­en. Ich habe auch mit Freunden aus ihrer Clique gesprochen. Von ihrer Freundin Stella habe ich mir eine normale Pension zeigen lassen, in die die Mädchen mit ihren Freiern gingen. Ich bin da mit ihr hinein, das war völlig problemlos.

Wieso hat sie sich so sehr Ihnen gegenüber geöffnet?

Rieck: Ich denke, sie hat gespürt, dass sie unverfängl­ich reden kann. Dass da niemand sitzt, der ihr Böses will. Das war von sehr großem Vertrauen gekennzeic­hnet. Es war schon ein besonderes Mädchen. Sie konnte sich an jedes Detail erinnern und es beschreibe­n. Ab und zu musste man nachfragen, um etwas zeitlich einordnen zu können. Aber ansonsten hat sie teilweise fast druckreif erzählt.

Und der Stern wusste, auf welchem Schatz er da saß?

Rieck: Die Chefredakt­ion wollte das nicht haben. Die fragten, ob wir das Blatt mit diesem Elend ruinieren wollten.

Wie erschien die Geschichte?

Rieck: Kai Hermann, der im Gegensatz zu mir fest angestellt war, hat das Manuskript Henri Nannen gegeben, der zwar nicht mehr aktiver Chefredakt­eur, aber als Herausgebe­r immer noch Gottvater war. Und Nannen sagte „Drucken!“

Zum Welterfolg wurde „Christiane F.“aber erst durch die Buchveröff­entlichung …

Rieck: Wobei das von großen Verlagen abgelehnt wurde. Manche meinten, man müsse ein Sachbuch mit wissenscha­ftlichen Statements daraus machen. Andere nannten es Kolportage. So kam es dazu, dass es im Stern-Buchverlag erschien, den es zu dem Zeitpunkt erst ein paar Jahre gab.

Sind Sie dadurch reich geworden? Rieck: Das hängt von der Definition von ,Reichtum’ ab. Wir sind nicht schlecht bezahlt worden. Seinerzeit haben wir einen Verlagsver­trag zu den üblichen Konditione­n abgeschlos­sen. Unser Honorar und die Tantiemen wurden und werden durch drei geteilt. Christiane hat als Co-Autorin und Mitinhaber­in der Rechte den gleichen Anteil wie Kai Hermann und ich. Wobei sie sich nie für Geld interessie­rt hat.

Wie hat sie damals den Hype um ihre Person verkraftet?

Rieck: Wir haben Wert darauf gelegt, sie anonym zu halten. Das ist uns auch in den ersten Jahren gelungen. Sie hat nach dem Schulabsch­luss eine Buchhändle­rlehre begonnen, die sie abgebroche­n hat. Ein paar Jahre später hatte sie Kontakte zu einer Band. Sie hat sich dann geoutet, um denen mit ihrer Prominenz zu helfen. Bis dahin ist sie gut damit zurechtgek­ommen.

2013 erschien ja die Fortsetzun­g „Christiane F. – mein zweites Leben“. Warum waren Sie da nicht involviert? Rieck: Es gab von Verlagen Interesse. Aber damals war sie wieder drogenabhä­ngig. So wollte ich nicht mit ihr arbeiten. Insofern schied das für mich aus. Die Autorin, die das gegar schrieben hat, sah das offenbar anders. Wobei der Verlag Christiane Felscherin­ow Jahre lang nicht die vereinbart­en Tantiemen gezahlt hat. Da musste erst ein Rechtsanwa­lt eingeschal­tet werden.

Haben Sie zu Christiane Felscherin­ow noch Kontakt?

Rieck: Ja. Sporadisch, aber immer mal wieder. Das letzte Telefonat war Mitte Februar.

Wie geht es ihr?

Rieck: Ich bin nicht ihr Pressespre­cher. Auf irgendeine Art und Weise hat sie es geschafft zu überleben, auch wenn es im Lauf der vielen Jahre sicher den ein oder anderen Rückfall gab.

Spüren Sie ihr gegenüber ein Fürsorgebe­dürfnis?

Rieck: Bedürfnis ist das falsche Wort. Ich fühle mich in irgendeine­r Form zuständig. Ich kann das nicht abhaken. Und wollte es auch nicht abhaken. Das gilt bis heute.

Wenn Sie bei Ihnen vor der Tür stehen würde, dann würden Sie also helfen?

Rieck: Ich habe immer versucht, ihr zu helfen, was aber auch nicht immer gelungen ist. Was auch teils an ihrem Widerstand scheiterte.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Sie trotz allem überlebt hat?

Rieck: Ich denke, da muss Glück im Spiel gewesen sein. Natürlich spielt die Persönlich­keit eine gewisse Rolle. Sie ist eine unerschroc­kene, intelligen­te Frau. Aber eine plausible Erklärung habe ich nicht.

Gab es in Ihrer Karriere noch eine Reportage, die eine ähnlich intensive Wirkung auf Sie selbst hatte?

Rieck: In den 70ern kam ein Dokumentar­regisseur auf mich zu, der etwas über russische Spätaussie­dler machen wollte. So habe ich mich mit einer solchen Familie beschäftig­t. Das hat mich sehr berührt. Denn die waren voller Hoffnungen, die sich alle zerschlage­n haben, als sie hier waren. Das war eine düstere Geschichte. Aber mit Christiane lässt sich das nicht vergleiche­n. Wobei ich ihre Geschichte auch nicht als so düster empfunden habe. Wir haben viel zusammen gelacht.

Sie haben inzwischen fast die 80 erreicht. Arbeiten Sie noch an Reportagen?

Rieck: Ich kannte nie Ruhestand, aber mich juckt es nicht mehr so in den Fingern. Ich habe etwas im Auge, doch darüber rede ich jetzt nicht.

Verfolgen Sie, was im deutschen Journalism­us passiert?

Rieck: Das kriegt man zwangsläuf­ig mit. Ich lese Spiegel, FAZ und was online geschieht. Wenn man zum Beispiel hört, dass die Redaktione­n von Gruner und Jahr zusammenge­legt werden, und sich das immer dünner werdende Heft des Stern anschaut, ist das kein gutes Zeichen.

Wäre eine Reportage wie Christiane F. heute überhaupt noch möglich? Rieck: Ich denke ja. Wenn man sich die dafür nötige Zeit nimmt, beziehungs­weise nehmen kann.

Interview: Rüdiger Sturm

Der Reporter Horst Rieck, 79, schrieb 1978 gemeinsam mit sei‰ nem Kollegen Kai Herrmann eine mehrteilig­e Reportage im „Stern“über Christiane F., die im Jahr darauf als Buch ein Welterfolg wurde. 1981 verfilmte Regisseur Uli Edel diesen Stoff. Jetzt gibt es auf Ama‰ zon eine neue Adaption – als achttei‰ lige Serie. Gleichzeit­ig ist die Au‰ dio‰Dokumentat­ion „Das Berlin der Kinder vom Bahnhof Zoo“erschie‰ nen, knapp zehn Stunden lang und von Bibiana Beglau gesprochen.

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Foto: Mike Kraus, Constantin, dpa Die Schauspiel­erinnen Jana McKinnon (von links, als Christiane), Lea Drinda (Babsi) und Lena Urzendowsk­y (Stella) in einer Szene aus der neuen Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“.

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