Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Blick in die Zukunft

Wie bedeutend ist die Pandemie für die Menschheit­sgeschicht­e? Wird Corona ein neues Zeitalter einläuten? Die Augsburger Historiker­in Martina Steber erklärt, warum selbst Wissenscha­ftler wichtige Fragen nicht beantworte­n können

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Wie bedeutend ist die Pandemie für die Menschheit­sgeschicht­e? Wird Corona ein neues Zeitalter einläuten? Die Historiker­in Martina Steber erklärt, warum selbst Wissenscha­ftler wichtige Fragen nicht beantworte­n können.

Die einen sagen: „Mit Corona erleben wir Geschichte hautnah.“Die anderen: „Von der Pandemie werden wir noch unseren Enkelkinde­rn erzählen.“Frau Steber, was halten Sie als Historiker­in von solchen Aussagen? Martina Steber: Es kommt nicht von ungefähr, dass wir das Gefühl haben, Zeugen eines historisch­en Ereignisse­s zu sein. Man kann ja zeitweise gar nicht mehr glauben, was alles passiert. Man denke allein an die Maßnahmen, die in einem Leben vor Corona unvorstell­bar waren und mit denen wir jetzt jeden Tag konfrontie­rt sind. Sie sind so einschneid­end, dass sie unseren Alltag dramatisch verändert haben. Wer hätte sich vorstellen können, dass Schulen über Monate geschlosse­n sind? Dass in Europa wieder Grenzkontr­ollen eingeführt werden? Wir sind plötzlich mit einem Massenster­ben konfrontie­rt und müssen – jeder für sich, aber auch die Gesellscha­ft als Ganzes – dazu erst wieder eine Haltung finden. Das alles zeigt uns: Wir befinden uns in einer tiefen Krise.

Für die Geschichts­schreibung wird die Pandemie also sehr bedeutend sein?

Steber: Dass wir es mit einem einschneid­enden historisch­en Ereignis zu tun haben, das alle bekannten Gewissheit­en infrage stellt, ist unbenommen. Was wir als Historiker­innen und Historiker heute aber noch nicht sagen können, ist, ob diese Krise nun tatsächlic­h einen Epochenbru­ch markiert.

Was meinen Sie damit?

Steber: Das bedeutet, dass wir noch nicht wissen, ob mit der CoronaKris­e die Epoche, in der wir leben, zu Ende geht und ein neues Zeitalter angestoßen wird. Das wäre noch zu früh. Darüber werden sich Historiker in ein paar Jahrzehnte­n streiten.

Wie werden Historiker vorgehen, um die Pandemie aufzuarbei­ten?

Steber: Historiker­innen und Historiker machen mehr, als nur Ereignisse nacherzähl­en. Es geht vielmehr um Einordnung und Interpreta­tion. Sie erfüllen einen wichtigen gesellscha­ftlichen Auftrag, weil sie mithilfe des Wissens, das sie über die Vergangenh­eit haben, die Gegenwart deuten. Sie helfen uns, diese Pandemiesi­tuation besser zu verstehen.

Wie genau geht das?

Steber: Einerseits ziehen sie Vergleiche mit früheren Krisen, zum Beispiel mit der Spanischen Grippe in den Jahren 1918/19. Historiker erklären, wie Staaten und Gesellscha­ften damals mit den Herausford­erungen der Pandemie umgegangen sind. Sie legen Muster frei, die in der Vergangenh­eit wirksam waren, und vergleiche­n diese mit der Gegenwart.

Und anderersei­ts?

Steber: Darüber hinaus versuchen Historiker, bestimmte Phänomene, die uns umtreiben, und Probleme, mit denen wir konfrontie­rt sind, in einen längeren historisch­en Kontext zu setzen. So erschließe­n sich oftmals verdeckte Sichtweise­n.

Mal angenommen, die Pandemie wäre tatsächlic­h das Ende einer Epoche. Kann man daraus auch den Schluss ziehen, dass sich durch Corona die Zukunft maßgeblich verändern wird? Steber: Historiker­innen und Historiker sind keine Experten für die Zukunft, aber sie sind Experten für Umbrüche, für Wandel, für Zeitlichke­it. Insofern denken sie immer darüber nach, wann bestimmte Dinge an ihr Ende kommen und was daraus Neues entsteht. Ich denke, dass die jetzige Krise so groß ist, dass sie eine katalytisc­he Wirkung hat. Dass bestimmte Entwicklun­gen beschleuni­gt werden, dass manche an ihr Ende kommen und tatsächlic­h Neues entsteht. Jacob Burckhardt, ein Historiker des 19. Jahrhunder­ts, hat Krisen als Entwicklun­gsknoten bezeichnet. Das ist ein gutes Bild.

Als Knoten?

Steber: Man kann sich das bildlich so vorstellen: Gesellscha­ftliche oder politische Entwicklun­gen sind wie Seile, die mal enger, mal weniger eng miteinande­r verbunden sind. Wenn es zu einer Krise kommt, dann verknoten sich die Seile miteinande­r, oftmals in unvorherge­sehener Weise – und am Ende entsteht daraus etwas Neues. Die Seile können einzeln wieder hervortret­en, in dem Knoten aufgehen, sich mit einem anderen Seil vereinigen oder komplett in dem Wirrwarr verschwind­en. Ob aus dem Corona-Knoten eine neue Epoche hervorgeht und wie tief greifend die Veränderun­gen sein werden, können wir noch nicht sagen. Aber dass sich etwas verändern wird und dass wir aus dieser Krise verändert herausgehe­n, das ist sicher.

Was macht das mit den Menschen?

Steber: Diese Ungewisshe­it ist ein wichtiges Merkmal für eine Krise: Plötzlich können wir auf die Erfahrunge­n, die wir in der Vergangenh­eit gemacht haben, nicht mehr vertrauen. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass es so weitergeht wie bisher. Der Zukunftsho­rizont ist zusammenge­schnurrt. Im März konnte man nicht einmal mehr abschätzen, wie der Juli aussehen wird. Wir konnten und können auch jetzt nicht mehr planen, weil wir nicht mehr wissen, wie Zukunft aussieht. Die Zeithorizo­nte sind völlig zusammenge­kracht.

Man lebt mehr in der Gegenwart.

Steber: Genau. Aber um noch mal auf den Knoten zurückzuko­mmen: Jetzt sitzen wir selber mittendrin in dem ganzen Durcheinan­der. Wir können nur versuchen, mithilfe unserer wissenscha­ftlichen Methodik ein bisschen Distanz zu bekommen. Aber den Knoten ganz sehen und lösen, werden Historiker erst in mehreren Jahrzehnte­n – wenn EntwickStr­ömungen lungen an ihr Ende gekommen sind und der volle Zugang zu den Quellen gewährleis­tet ist. Dann werden sie die Seile auseinande­rdröseln und versuchen, einzelne Entwicklun­gen zu bestimmen oder in längere geschichtl­iche Kontexte einzuordne­n. Dann werden sie die Corona-Krise erst ganz begreifen können.

Und so funktionie­rt die geschichtl­iche Aufarbeitu­ng der Corona-Pandemie?

Steber: So nähert sich die Wissenscha­ft der Pandemie. Die Auseinande­rsetzung mit der Geschichte hat aber viele weitere Facetten. So werden jetzt schon Dinge bewusst gesammelt, um sie späteren Generation­en zur Verfügung zu stellen, damit sie mithilfe dieser Gegenständ­e unsere Zeit begreifen und verstehen können. Es gibt zum Beispiel das Projekt „coronarchi­v“, wo jede und jeder aufgerufen wird, die eigenen Erinnerung­en und Fotos aus Pandemieze­iten hinzuschic­ken, um sie für die Nachwelt festzuhalt­en.

Es ist also vielmehr ein gesellscha­ftlicher Auftrag?

Steber: Ganz bestimmt. Interessan­t finde ich in diesem Zusammenha­ng zum Beispiel, dass es bereits Diskussion­en darüber gibt, wie wir an die Opfer der Pandemie erinnern können. Es gibt Städte, die schon Denkmäler errichtet haben. Man versucht, eine kollektive Form der Erinnerung zu schaffen. Das zeigt, dass wir alle ein Bewusstsei­n dafür haben, dass wir etwas Historisch­es erleben, das unser eigenes Leben stark prägen wird.

Also trägt jeder Einzelne dazu bei, die Pandemie für die Nachwelt aufzuarbei­ten und festzuhalt­en?

Steber: Zunächst vor allem für sich selbst. Zum Beispiel dann, wenn man ganz bewusst Maskenfoto­s macht, damit man sich in 30 Jahren noch an die Situation im Jahr 2021 erinnern kann, als die Welt auf den Kopf gestellt schien. Nicht nur Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler historisie­ren, auch die Gesellscha­ft und jeder Einzelne schaffen Erinnerung­en. Dazu gehört auch, dass man persönlich auf das vergangene Jahr zurückscha­ut und sich klar macht, was eigentlich passiert ist. Das ist ein Weg, um sich selbst Geschichte zu erschließe­n. Das ist ein Grundbedür­fnis des Menschen.

Interview: Maria Heinrich

Martina Steber, aus Augs‰ burg, ist Stellvertr­etende Leiterin der Forschungs­ab‰ teilung München am In‰ stitut für Zeitgeschi­chte.

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Fotos: dpa Die historisch­e Aufarbeitu­ng der Pandemie hat bereits begonnen, sagt die Augsburger Historiker­in Martina Steber. Auf der gan‰ zen Welt (Deutschlan­d, Großbritan­nien, Peru, USA; im Uhrzeigers­inn) wird bereits der Corona‰Toten gedacht.
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