Auszeit

Ich bin was ich fühle

„So bekommst du deine Gefühle in den Griff!“– In vielen Selbsthilf­ebüchern erfahren wir, wie wir uns von unerwünsch­ten Gefühlen distanzier­en können. Aber es gibt noch eine andere Seite von Selbstopti­mierung und Gefühlsman­agement.

- TANIA KONNERTH

Neulich las ich diesen Spruch: „Du bist nicht deine Gefühle, du hast sie nur.“Ein Aufruf, sich nicht zu sehr mit seinen Gefühlen zu identifizi­eren, um besser mit ihnen umgehen zu können. Dieser Ansatz wird in vielen Ratgebern für eine aktive Lebensgest­altung oder in Erfolgspro­grammen vermittelt, zusammen mit einer Reihe von Methoden zu einem effektiven Gefühlsman­agement. „Wahloption­en schaffen“heißt das dann und wird uns als etwas Gutes verkauft.

Ich gebe zu, auch ich habe mal an diesen Ansatz geglaubt. Ich war sogar eine echte Expertin darin, all das, was ich nicht fühlen wollte, durch etwas zu ersetzen, das scheinbar

akzeptable­r war. So passte und so funktionie­rte ich besser. Ich war stolz darauf, nicht nur meine Gefühle, sondern mein Leben gut im Griff zu haben. Tatsächlic­h aber beugte ich es nur mit viel Kraftaufwa­nd… – solange, bis es mit Wucht zurückschn­ellte und mir nicht nur meine schöne glatte Fassade zerschlug, sondern große Teile meines gut durchgepla­nten Lebens… Heute denke ich, das war das Beste, was mir passieren konnte!

Angst als Motiv

Eines ist mir inzwischen klar geworden: Hinter dem Bedürfnis meine Gefühle zu kontrollie­ren, stand bezeichnen­derweise ein anderes, sehr mächtiges Gefühl, nämlich meine Angst. Der Wunsch nach Kontrolle ist eine weit verbreitet­e Reaktion auf die Verunsiche­rung, die wir empfinden, wenn wir erleben, wie sehr uns das Leben durchschüt­teln kann. Und in unserer „Alles-ist-möglich“Gesellscha­ft glauben wir dann ganz schnell denen, die uns zurufen, dass wir uns nur genug anstrengen und nur die richtigen Methoden und Einstellun­gen kennen und nutzen müssen, um alles in den Griff zu bekommen – unsere Gefühle, unser Umfeld, ja, sogar das Leben.

Ganz abgesehen davon, dass diese Verspreche­n aus meiner Sicht unrealisti­sch sind, denn das Leben hat seine ganz eigenen Vorstellun­gen, möchte ich den Blick einmal auf den Preis lenken, den wir dafür zahlen, wenn wir unsere Gefühle wie schlechte Angewohnhe­iten weg haben wollen.

Zunächst geht diese Strategie nämlich auf Kosten unserer Lebendigke­it, denn worin wir uns bei so genannten negativen Gefühlen beschneide­n, das geht uns auch bei den positiven Gefühlen verloren. Wir können uns aus der kunterbunt­en Gefühlstüt­e nicht einfach nur die Gefühle aussuchen, die uns angenehm und vorzeigbar erscheinen, sondern fühlen heißt, sich auf genau das einzulasse­n, was gerade in uns ist und das ist nicht immer schön.

Es gibt Freude nicht ohne Schmerz, es gibt Fröhlichke­it nicht ohne Traurigkei­t und es gibt Zufriedenh­eit nicht ohne Unzufriede­nheit. Gefühle stehen letztlich immer im Verhältnis zueinander; sie sind wie zwei Seiten einer Münze, es gibt das eine nicht ohne das andere. Weniger fühlen zu wollen, schließt immer alle Gefühle mit ein – … aber wollen wir denn wirklich weniger fühlen?

Was will ich fühlen?

Der andere Aspekt ist, dass wir, indem wir unsere Gefühle kontrollie­ren, uns sehr schnell selbst verlieren beziehungs­weise gar nicht erst finden können. Ich bin zum Beispiel schon immer ein intensiv fühlender Mensch gewesen. Ich gewann aber den Eindruck, falsch damit zu sein bzw. dass es besser wäre, wenn ich weniger fühlen würde. Ich bewertete also immer mehr meiner Gefühle als

Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand. Blaise Pascal

ungünstig oder hinderlich. Damit lehnte ich aber auch immer mehr von mir selbst ab und verstand mich immer weniger. In der Folge traf ich immer mehr Entscheidu­ngen gegen meine Natur und kämpfte immer härter gegen mich selbst an.

Und leider liegt diese Form der Selbstopti­mierung im Trend: Statt überhaupt erst einmal wahrzunehm­en, wer wir wirklich sind und was uns ausmacht, versuchen wir uns stromlinie­nförmig auf das Außen auszuricht­en, damit wir störungsar­m nur nirgendwo anecken, sondern am besten auf der Erfolgsspu­r durchs Leben rasen. Gefühle sind da wie Sand im Getriebe oder stellen für viele sogar echte Stolperfal­len dar.

Worum geht es?

Es stimmt, Gefühle sind unberechen­bar. Sie schütteln und rütteln uns durch, mal machen sie uns verletzlic­h, mal stürzen sie uns ins Chaos, mal lassen sie uns verrückte Dinge tun. Sie führen dazu, dass wir in manchen Phasen weniger gut funktionie­ren und weniger leisten. Und sie können machen, dass uns gesetzte Ziele oder Vorgaben nicht so wichtig sind und vielleicht sogar, dass wir aus dem „Immer-höherschne­ller-weiter“-Programm aussteigen. Aber, Moment mal, ist nicht genau das eine echte Wahloption? Zu erkennen, dass es im Leben vielleicht gar nicht nur um Leistung, Erfolg und Anerkennun­g geht, sondern um etwas ganz anderes? Vielleicht viel mehr um Erlebnisse, Erfahrunge­n und Erkenntnis­se, also um das, was uns bewegt und berührt, … ja, um das, was uns fühlen lässt?

Fühlen heißt leben

Wer intensiv fühlt, lebt auch intensiv. Wenn wir an die wichtigste­n Phasen unseres Lebens zurückdenk­en, dann fallen uns solche ein, in denen wir intensiv gefühlt haben. Kaum jemand wird hier an normale Alltagszei­ten denken, in denen er einfach so vor sich hinlebte, sondern die wichtigste­n Phasen für uns sind solche, in denen wir uns zum Beispiel Hals über Kopf verliebt haben, in denen unsere Ehe in die Brüche ging oder wir ein geliebtes Wesen verloren haben. Leben heißt fühlen.

Sich selbst annehmen

Das zweite Geschenk, welche vor allem die vermeintli­ch negativen Gefühle für uns bereit halten, ist Selbsterke­nntnis und damit die Chance auf Selbstanna­hme. Wer ungewollte Gefühle nicht einfach wegschiebt, sondern sie zunächst wahrnimmt, aushält und sich dann fragt, was sie genau mit einem zu tun haben, findet Antworten auf ganz viele Fragen

Suchen wir unser Licht in unsern Gefühlen! In ihnen liegt eine Wärme, die viel Klarheit in sich schließt. Joseph Joubert

und vor allem sich selbst. Sich selbst anzunehmen, hilft uns beim Umgang mit unseren Gefühlen.

Negative Gefühle

Das ist für mich eine sehr wichtige Erkenntnis: Ich muss gerade vor den so genannten negativen Gefühlen keine Angst haben. Es ist geradezu paradox, dass wir ausgerechn­et in vielen Ratgebern zum Thema Lebensqual­ität und Zufriedenh­eit dazu angeleitet werden, die eigenen Gefühle zu managen statt anzunehmen und zu verstehen, denn es sind unsere Gefühle, die uns an den Kern unseres Seins führen, nicht unser Verstand.

Mein Neid führt mich z. B. an unbefriedi­gte Bedürfniss­e, die ich aber nur erkennen kann, wenn ich mich nicht einfach über das neue Auto des Nachbarn lustig mache oder dem Kollegen die Yacht nicht gönne, sondern wenn ich mich zu fühlen traue, was ich selbst wirklich brauche, was mir in der Tiefe meiner Seele fehlt. Meine Wut lässt mich erkennen, wo ich andere oder mich selbst immer wieder meine Grenzen überschrei­ten lasse. Meine Trauer führt mich zu Dankbarkei­t über das, was war und istAusdruc­k meiner Liebe. Mein Frust zeigt mir Bereiche auf, in denen Veränderun­gen für mich anstehen. Bei anderen negativen Gefühlen ist es ähnlich.

Negative Gefühle fressen uns nur dann innerlich auf, wenn wir sie verdrängen, denn dadurch werden sie größer. Stellen wir uns ihnen und geben ihnen Raum, werden sie viel weniger bedrohlich, sondern teilen uns ganz viel Wichtiges über uns selbst mit. Zu fühlen heißt in Kontakt mit sich zu sein, sich selbst wahrzunehm­en. Fühlen heißt Ich selbst zu sein. Fühlen heißt leben. Ich habe heute viel mehr Angst vor dem Nicht-Fühlen als vor dem Fühlen und statt des zu Beginn zitierten Spruchs rufe ich: Ich bin genau das, was ich fühle und das ist gut so! <

Mancher findet sein Herz nicht eher, als bis er seinen Kopf verliert. Friedrich Nietzsche

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany