Ich bin was ich fühle
„So bekommst du deine Gefühle in den Griff!“– In vielen Selbsthilfebüchern erfahren wir, wie wir uns von unerwünschten Gefühlen distanzieren können. Aber es gibt noch eine andere Seite von Selbstoptimierung und Gefühlsmanagement.
Neulich las ich diesen Spruch: „Du bist nicht deine Gefühle, du hast sie nur.“Ein Aufruf, sich nicht zu sehr mit seinen Gefühlen zu identifizieren, um besser mit ihnen umgehen zu können. Dieser Ansatz wird in vielen Ratgebern für eine aktive Lebensgestaltung oder in Erfolgsprogrammen vermittelt, zusammen mit einer Reihe von Methoden zu einem effektiven Gefühlsmanagement. „Wahloptionen schaffen“heißt das dann und wird uns als etwas Gutes verkauft.
Ich gebe zu, auch ich habe mal an diesen Ansatz geglaubt. Ich war sogar eine echte Expertin darin, all das, was ich nicht fühlen wollte, durch etwas zu ersetzen, das scheinbar
akzeptabler war. So passte und so funktionierte ich besser. Ich war stolz darauf, nicht nur meine Gefühle, sondern mein Leben gut im Griff zu haben. Tatsächlich aber beugte ich es nur mit viel Kraftaufwand… – solange, bis es mit Wucht zurückschnellte und mir nicht nur meine schöne glatte Fassade zerschlug, sondern große Teile meines gut durchgeplanten Lebens… Heute denke ich, das war das Beste, was mir passieren konnte!
Angst als Motiv
Eines ist mir inzwischen klar geworden: Hinter dem Bedürfnis meine Gefühle zu kontrollieren, stand bezeichnenderweise ein anderes, sehr mächtiges Gefühl, nämlich meine Angst. Der Wunsch nach Kontrolle ist eine weit verbreitete Reaktion auf die Verunsicherung, die wir empfinden, wenn wir erleben, wie sehr uns das Leben durchschütteln kann. Und in unserer „Alles-ist-möglich“Gesellschaft glauben wir dann ganz schnell denen, die uns zurufen, dass wir uns nur genug anstrengen und nur die richtigen Methoden und Einstellungen kennen und nutzen müssen, um alles in den Griff zu bekommen – unsere Gefühle, unser Umfeld, ja, sogar das Leben.
Ganz abgesehen davon, dass diese Versprechen aus meiner Sicht unrealistisch sind, denn das Leben hat seine ganz eigenen Vorstellungen, möchte ich den Blick einmal auf den Preis lenken, den wir dafür zahlen, wenn wir unsere Gefühle wie schlechte Angewohnheiten weg haben wollen.
Zunächst geht diese Strategie nämlich auf Kosten unserer Lebendigkeit, denn worin wir uns bei so genannten negativen Gefühlen beschneiden, das geht uns auch bei den positiven Gefühlen verloren. Wir können uns aus der kunterbunten Gefühlstüte nicht einfach nur die Gefühle aussuchen, die uns angenehm und vorzeigbar erscheinen, sondern fühlen heißt, sich auf genau das einzulassen, was gerade in uns ist und das ist nicht immer schön.
Es gibt Freude nicht ohne Schmerz, es gibt Fröhlichkeit nicht ohne Traurigkeit und es gibt Zufriedenheit nicht ohne Unzufriedenheit. Gefühle stehen letztlich immer im Verhältnis zueinander; sie sind wie zwei Seiten einer Münze, es gibt das eine nicht ohne das andere. Weniger fühlen zu wollen, schließt immer alle Gefühle mit ein – … aber wollen wir denn wirklich weniger fühlen?
Was will ich fühlen?
Der andere Aspekt ist, dass wir, indem wir unsere Gefühle kontrollieren, uns sehr schnell selbst verlieren beziehungsweise gar nicht erst finden können. Ich bin zum Beispiel schon immer ein intensiv fühlender Mensch gewesen. Ich gewann aber den Eindruck, falsch damit zu sein bzw. dass es besser wäre, wenn ich weniger fühlen würde. Ich bewertete also immer mehr meiner Gefühle als
Ein Tropfen Liebe ist mehr als ein Ozean Verstand. Blaise Pascal
ungünstig oder hinderlich. Damit lehnte ich aber auch immer mehr von mir selbst ab und verstand mich immer weniger. In der Folge traf ich immer mehr Entscheidungen gegen meine Natur und kämpfte immer härter gegen mich selbst an.
Und leider liegt diese Form der Selbstoptimierung im Trend: Statt überhaupt erst einmal wahrzunehmen, wer wir wirklich sind und was uns ausmacht, versuchen wir uns stromlinienförmig auf das Außen auszurichten, damit wir störungsarm nur nirgendwo anecken, sondern am besten auf der Erfolgsspur durchs Leben rasen. Gefühle sind da wie Sand im Getriebe oder stellen für viele sogar echte Stolperfallen dar.
Worum geht es?
Es stimmt, Gefühle sind unberechenbar. Sie schütteln und rütteln uns durch, mal machen sie uns verletzlich, mal stürzen sie uns ins Chaos, mal lassen sie uns verrückte Dinge tun. Sie führen dazu, dass wir in manchen Phasen weniger gut funktionieren und weniger leisten. Und sie können machen, dass uns gesetzte Ziele oder Vorgaben nicht so wichtig sind und vielleicht sogar, dass wir aus dem „Immer-höherschneller-weiter“-Programm aussteigen. Aber, Moment mal, ist nicht genau das eine echte Wahloption? Zu erkennen, dass es im Leben vielleicht gar nicht nur um Leistung, Erfolg und Anerkennung geht, sondern um etwas ganz anderes? Vielleicht viel mehr um Erlebnisse, Erfahrungen und Erkenntnisse, also um das, was uns bewegt und berührt, … ja, um das, was uns fühlen lässt?
Fühlen heißt leben
Wer intensiv fühlt, lebt auch intensiv. Wenn wir an die wichtigsten Phasen unseres Lebens zurückdenken, dann fallen uns solche ein, in denen wir intensiv gefühlt haben. Kaum jemand wird hier an normale Alltagszeiten denken, in denen er einfach so vor sich hinlebte, sondern die wichtigsten Phasen für uns sind solche, in denen wir uns zum Beispiel Hals über Kopf verliebt haben, in denen unsere Ehe in die Brüche ging oder wir ein geliebtes Wesen verloren haben. Leben heißt fühlen.
Sich selbst annehmen
Das zweite Geschenk, welche vor allem die vermeintlich negativen Gefühle für uns bereit halten, ist Selbsterkenntnis und damit die Chance auf Selbstannahme. Wer ungewollte Gefühle nicht einfach wegschiebt, sondern sie zunächst wahrnimmt, aushält und sich dann fragt, was sie genau mit einem zu tun haben, findet Antworten auf ganz viele Fragen
Suchen wir unser Licht in unsern Gefühlen! In ihnen liegt eine Wärme, die viel Klarheit in sich schließt. Joseph Joubert
und vor allem sich selbst. Sich selbst anzunehmen, hilft uns beim Umgang mit unseren Gefühlen.
Negative Gefühle
Das ist für mich eine sehr wichtige Erkenntnis: Ich muss gerade vor den so genannten negativen Gefühlen keine Angst haben. Es ist geradezu paradox, dass wir ausgerechnet in vielen Ratgebern zum Thema Lebensqualität und Zufriedenheit dazu angeleitet werden, die eigenen Gefühle zu managen statt anzunehmen und zu verstehen, denn es sind unsere Gefühle, die uns an den Kern unseres Seins führen, nicht unser Verstand.
Mein Neid führt mich z. B. an unbefriedigte Bedürfnisse, die ich aber nur erkennen kann, wenn ich mich nicht einfach über das neue Auto des Nachbarn lustig mache oder dem Kollegen die Yacht nicht gönne, sondern wenn ich mich zu fühlen traue, was ich selbst wirklich brauche, was mir in der Tiefe meiner Seele fehlt. Meine Wut lässt mich erkennen, wo ich andere oder mich selbst immer wieder meine Grenzen überschreiten lasse. Meine Trauer führt mich zu Dankbarkeit über das, was war und istAusdruck meiner Liebe. Mein Frust zeigt mir Bereiche auf, in denen Veränderungen für mich anstehen. Bei anderen negativen Gefühlen ist es ähnlich.
Negative Gefühle fressen uns nur dann innerlich auf, wenn wir sie verdrängen, denn dadurch werden sie größer. Stellen wir uns ihnen und geben ihnen Raum, werden sie viel weniger bedrohlich, sondern teilen uns ganz viel Wichtiges über uns selbst mit. Zu fühlen heißt in Kontakt mit sich zu sein, sich selbst wahrzunehmen. Fühlen heißt Ich selbst zu sein. Fühlen heißt leben. Ich habe heute viel mehr Angst vor dem Nicht-Fühlen als vor dem Fühlen und statt des zu Beginn zitierten Spruchs rufe ich: Ich bin genau das, was ich fühle und das ist gut so! <
Mancher findet sein Herz nicht eher, als bis er seinen Kopf verliert. Friedrich Nietzsche