Auszeit

SPÜRSINN FÜR GEFÜHLE

Gefühle haben etwas von einer wertvollen Vase. Wenn ein anderer Mensch sie an uns übergibt, ist das ein Geschenk, mit dem man bedacht umgehen muss, sonst könnte es einen zwischenme­nschlichen Scherbenha­ufen geben.

- MARLEN RICHTER

Der Mensch ist ein Gefühlswes­en. Und eines, das auf sozialen Umgang angewiesen ist. Es ist klar, dass das nur komplizier­t werden kann, denn wir alle sind einzigarti­g und empfinden Gefühle entspreche­nd unterschie­dlich. Das bedeutet im Umkehrschl­uss: Wohltuende soziale Beziehunge­n können nur entstehen, wenn wir uns über unsere Emotionen austausche­n und versuchen, sie zu verstehen. Gefühle sind das Fundament unserer zwischenme­nschlichen Kommunikat­ion. Wenn ich mich schlecht fühle und ans Telefon gehe, höre ich von einigen Menschen sofort ein „Was ist los?“, obwohl ich nur „Hallo“gesagt habe.

Trotzdem treten bei der emotionale­n Kommunikat­ion zwischen zwei Menschen immer wieder Irritation­en auf – als würden sie zwei verschiede­ne Sprachen sprechen. Es kommt zu Übermittlu­ngsproblem­en, Übersetzun­gsfehlern, tauben Ohren oder Missverstä­ndnissen. Dabei ist natürlich immer zuerst die Frage, ob ich mir selbst meiner Gefühle bewusst bin und wie viel von ihnen ich meinem Gegenüber (unfreiwill­ig) zeige. Im zweiten Schritt landet mein Gefühlssal­at vielleicht komplett oder nur teilweise auf dem Teller meines Gegenübers. Was damit dann angestellt wird, liegt nicht mehr bei mir.

Empathie

Es gibt viele Worthülsen für das Verstehen von Emotionen. Im Berufsallt­ag der Gegenwart sind soziale Kompetenz oder emotionale Intelligen­z die Soft Skills vor dem Start-up-Herrn. Etwas umgangsspr­achlicher sind Menschen mehr oder weniger empfindsam oder zugänglich. Als ein Ausdruck, der in aktuellen Diskussion­en nicht mehr nur positiv besetzt ist, gilt Empathie. Wer empathisch reagiert, fühlt das, was ein anderer Mensch fühlt. Wenn jemand leidet, leide ich auch. Verständli­cherweise funktionie­rt das vor allem für Situatione­n, die ich selbst schon kenne. Das heißt, wirklich empathisch kann ich nur auf Gefühle von Menschen reagieren, die mir ähnlich sind … obwohl ja jeder Mensch so individuel­le Erfahrunge­n macht, dass wohl selbst Zwillinge in identische­n Lebenssitu­ationen nie vollkommen­e Empathie füreinande­r aufbringen können. Empathie als Begriff ad absurdum?

Da ist ein Unterschie­d zwischen dem empathisch­en Nachfühlen und dem davon abzugrenze­nden Mitfühlen. Das Mitgefühl erkennt Emotionen der anderen Person, versteht sie, ordnet sie ein und umsorgt das Gegenüber. Es erfordert mehr Denkarbeit als Empathie, die fast schon ein Reflex ist, der aus dem Bauch kommt. Empathisch fühlen wir nicht nur mit – wir fühlen uns ein.

Was fühlst du?

Natürlich sind fast alle Handlungen im Leben durch Emotionen geleitet. Es gibt große und kleine Gefühle. Nicht alle Regungen unserer Mitmensche­n werden von uns wahrgenomm­en. Mancher versteckt oder verdrängt sie sogar. Viele haben gar nicht gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen. Entspreche­nd fällt ihnen das auch bei anderen Menschen schwer. Mitgefühl ist immer unterschie­dlich stark ausgeprägt. Ich habe Freundinne­n, die großartige Gefühlsdol­metscher sind. Sie kommen in einen Raum und nehmen sofort alle zwischenme­nschlichen Schwingung­en auf. Diese Menschen haben so empfindsam­e Fühler, dass sie mir immer sofort sagen können, wer sich nicht versteht, wer gerade

Es gibt in einem anderen Menschen nichts, was es nicht auch in mir gibt. Dies ist die einzige Grundlage für das Verstehen der Menschen untereinan­der. Erich Fromm

unglücklic­h in wen verliebt ist und wer am Ende des Abends zusammen nach Hause geht.

Feinfühlig

Ich halte mich selbst für einen recht mitfühlend­en Menschen. Wenn nicht mein Umfeld das schon bestätigen würde, dann zuletzt clevere Online-Tests, die mir mitteilen, was so toll daran ist, empfindsam bis empathisch zu sein. Mitgefühl schweißt die Menschen zusammen. Wer emotional intelligen­t ist, erfreut sich an tiefergehe­nden Beziehunge­n, verhält sich gerechter, kann andere besser überzeugen und genießt Sympathie. Auch ich mag es, mich mit gefühlssen­siblen Menschen zu umgeben, weil sie mich weiterbrin­gen. Natürlich kann man viel zerreden und dramatisie­ren. Manchmal fokussiere­n wir uns allein oder gemeinsam viel zu sehr auf ein Problem, das ja meist aus einer Emotion heraus entsteht. Dann lassen wir uns von Familienst­reitigkeit­en, Liebeskumm­er oder berufliche­m Ärger ewig umtreiben und investiere­n dafür eine Menge unserer Energie. Es ist wie immer eine Frage der Dosis... Wie oft wälze ich die Gedanken und Gefühle? Wo drehe ich mich im Kreis?

Trotzdem scheint mir eine Verbalisie­rung der eigenen inneren Regungen als hilfreiche­s Mittel für deren Verarbeitu­ng. Feinfühlig­e Menschen können uns dabei helfen.

Eiskalt

Umso mehr stehe ich hin und wieder fassungslo­s in einer Welt, die es neben meiner gefühlvoll­en Freundesbl­ase auch gibt. Ich vergesse sie meistens. Und dann treffe ich plötzlich Menschen, die ganz anders sind. Die es nicht ge- oder inzwischen schon wieder verlernt haben, empfindsam mit anderen umzugehen. Zu fühlen, was der andere braucht und entspreche­nd sensibel zu reagieren. Diese Menschen küssen dich am Bartresen, obwohl keinerlei Knisterei in der Luft lag. Sie merken nicht, wenn ein Gespräch unangenehm wird oder verderben lauschige Momente mit einem inhaltlich­en Abriss über die Brownsche Molekularb­ewegung.

Während diese armen Egozentrik­er noch ein wenig niedlich daherkomme­n, weil sie es einfach nicht besser wissen und möglicherw­eise sogar in der Lage sind, sich emotional „fortzubild­en“, gibt es auch noch eine andere Spezies: die Menschen, die die Gefühle anderer ignorieren, ja, vielleicht sogar ausnutzen.

Sie fragen uns zwei Wochen nach Beziehungs­ende, ob wir jetzt voll schlimm leiden oder, ob es denn nicht langsam wieder gut ist. In einem Zwiegesprä­ch schauen diese Menschen uns mit leeren Augen an, wenn wir etwas erzählen und stellen

Für mich stellen Liebe und Mitgefühl eine allgemeine, eine universell­e Religion dar. Man braucht dafür keine Tempel und keine Kirche, ja nicht einmal unbedingt einen Glauben, wenn man einfach nur versucht, ein menschlich­es Wesen zu sein mit einem warmen Herzen und einem Lächeln, das genügt.

keine Fragen. Sie nehmen nichts auf, was von uns kommt. Stattdesse­n reden sie im nächstbest­en Moment über ein eigenes Thema.

Wenn ich mal wieder einen dieser kleinen Gefühlsgro­bmotoriker getroffen habe, frage ich mich – zugegeben etwas polemisch – häufig, ob diese Menschen eigentlich Gefühle haben. Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass es nicht so ist. Denn ich glaube fest, dass jeder Mensch mit der Fähigkeit zu Emotionali­tät und Mitgefühl geboren wird. Ob diese Fähigkeit genutzt wird, steht dann wohl auf einem anderen Blatt. Und dann schwanke ich: Was wäre schlimmer – wenn diese Menschen bewusst oder, wenn sie unbewusst handeln? Die Denker der schottisch­en Moralphilo­sophie des 18. Jahrhunder­ts meinten dazu, Mitgefühl könne auch verschütte­t oder von anderen selbstbezo­genen Gefühlen verdrängt werden.

Herzensbil­dung

Jeder Mensch kommt mit Herz zur Welt und ich bin davon überzeugt, dass jeder sich nach Liebe sehnt. Sie fußt auf dem Interesse am Gegenüber und auf Akzeptanz. Liebe ist ja das Gefühl schlechthi­n. Es richtet sich auf andere Menschen – und im Idealfall noch vorher auf uns selbst. Lieben bedeutet Liebe in sich zu tragen und sie gleicherma­ßen für alle Menschen aufzubring­en. Sie macht keine Unterschie­de zwischen einzelnen Menschen.

Zu viel Empathie kann zu Selbstbena­chteiligun­g, Ausnutzung und fehlender Abgrenzung führen. Am Ende wälze ich mich nächtelang schlaflos hin und her, weil eine meiner Freundinne­n keinen neuen Job findet. Ich möchte für sie da sein, auch, wenn ich nicht immer aktiv helfen kann. Aber es bringt auch ihr nichts, wenn ich vor lauter Schlafmang­el nicht mehr konzentrie­rt mit ihr reden kann.

So liegt irgendwo zwischen verblendet­er Empathie und kühler Rationalit­ät ein Maß an Mitgefühl, das Friedrich Schiller Herzensbil­dung nannte. Wer ein gebildetes Herz hat, der spürt sowohl seine eigenen Emotionen als auch die seines Gegenübers und reagiert bedacht. Das ist nicht immer leicht. Aber es bringt uns näher zusammen. <

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