SPÜRSINN FÜR GEFÜHLE
Gefühle haben etwas von einer wertvollen Vase. Wenn ein anderer Mensch sie an uns übergibt, ist das ein Geschenk, mit dem man bedacht umgehen muss, sonst könnte es einen zwischenmenschlichen Scherbenhaufen geben.
Der Mensch ist ein Gefühlswesen. Und eines, das auf sozialen Umgang angewiesen ist. Es ist klar, dass das nur kompliziert werden kann, denn wir alle sind einzigartig und empfinden Gefühle entsprechend unterschiedlich. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wohltuende soziale Beziehungen können nur entstehen, wenn wir uns über unsere Emotionen austauschen und versuchen, sie zu verstehen. Gefühle sind das Fundament unserer zwischenmenschlichen Kommunikation. Wenn ich mich schlecht fühle und ans Telefon gehe, höre ich von einigen Menschen sofort ein „Was ist los?“, obwohl ich nur „Hallo“gesagt habe.
Trotzdem treten bei der emotionalen Kommunikation zwischen zwei Menschen immer wieder Irritationen auf – als würden sie zwei verschiedene Sprachen sprechen. Es kommt zu Übermittlungsproblemen, Übersetzungsfehlern, tauben Ohren oder Missverständnissen. Dabei ist natürlich immer zuerst die Frage, ob ich mir selbst meiner Gefühle bewusst bin und wie viel von ihnen ich meinem Gegenüber (unfreiwillig) zeige. Im zweiten Schritt landet mein Gefühlssalat vielleicht komplett oder nur teilweise auf dem Teller meines Gegenübers. Was damit dann angestellt wird, liegt nicht mehr bei mir.
Empathie
Es gibt viele Worthülsen für das Verstehen von Emotionen. Im Berufsalltag der Gegenwart sind soziale Kompetenz oder emotionale Intelligenz die Soft Skills vor dem Start-up-Herrn. Etwas umgangssprachlicher sind Menschen mehr oder weniger empfindsam oder zugänglich. Als ein Ausdruck, der in aktuellen Diskussionen nicht mehr nur positiv besetzt ist, gilt Empathie. Wer empathisch reagiert, fühlt das, was ein anderer Mensch fühlt. Wenn jemand leidet, leide ich auch. Verständlicherweise funktioniert das vor allem für Situationen, die ich selbst schon kenne. Das heißt, wirklich empathisch kann ich nur auf Gefühle von Menschen reagieren, die mir ähnlich sind … obwohl ja jeder Mensch so individuelle Erfahrungen macht, dass wohl selbst Zwillinge in identischen Lebenssituationen nie vollkommene Empathie füreinander aufbringen können. Empathie als Begriff ad absurdum?
Da ist ein Unterschied zwischen dem empathischen Nachfühlen und dem davon abzugrenzenden Mitfühlen. Das Mitgefühl erkennt Emotionen der anderen Person, versteht sie, ordnet sie ein und umsorgt das Gegenüber. Es erfordert mehr Denkarbeit als Empathie, die fast schon ein Reflex ist, der aus dem Bauch kommt. Empathisch fühlen wir nicht nur mit – wir fühlen uns ein.
Was fühlst du?
Natürlich sind fast alle Handlungen im Leben durch Emotionen geleitet. Es gibt große und kleine Gefühle. Nicht alle Regungen unserer Mitmenschen werden von uns wahrgenommen. Mancher versteckt oder verdrängt sie sogar. Viele haben gar nicht gelernt, mit ihren Gefühlen umzugehen. Entsprechend fällt ihnen das auch bei anderen Menschen schwer. Mitgefühl ist immer unterschiedlich stark ausgeprägt. Ich habe Freundinnen, die großartige Gefühlsdolmetscher sind. Sie kommen in einen Raum und nehmen sofort alle zwischenmenschlichen Schwingungen auf. Diese Menschen haben so empfindsame Fühler, dass sie mir immer sofort sagen können, wer sich nicht versteht, wer gerade
Es gibt in einem anderen Menschen nichts, was es nicht auch in mir gibt. Dies ist die einzige Grundlage für das Verstehen der Menschen untereinander. Erich Fromm
unglücklich in wen verliebt ist und wer am Ende des Abends zusammen nach Hause geht.
Feinfühlig
Ich halte mich selbst für einen recht mitfühlenden Menschen. Wenn nicht mein Umfeld das schon bestätigen würde, dann zuletzt clevere Online-Tests, die mir mitteilen, was so toll daran ist, empfindsam bis empathisch zu sein. Mitgefühl schweißt die Menschen zusammen. Wer emotional intelligent ist, erfreut sich an tiefergehenden Beziehungen, verhält sich gerechter, kann andere besser überzeugen und genießt Sympathie. Auch ich mag es, mich mit gefühlssensiblen Menschen zu umgeben, weil sie mich weiterbringen. Natürlich kann man viel zerreden und dramatisieren. Manchmal fokussieren wir uns allein oder gemeinsam viel zu sehr auf ein Problem, das ja meist aus einer Emotion heraus entsteht. Dann lassen wir uns von Familienstreitigkeiten, Liebeskummer oder beruflichem Ärger ewig umtreiben und investieren dafür eine Menge unserer Energie. Es ist wie immer eine Frage der Dosis... Wie oft wälze ich die Gedanken und Gefühle? Wo drehe ich mich im Kreis?
Trotzdem scheint mir eine Verbalisierung der eigenen inneren Regungen als hilfreiches Mittel für deren Verarbeitung. Feinfühlige Menschen können uns dabei helfen.
Eiskalt
Umso mehr stehe ich hin und wieder fassungslos in einer Welt, die es neben meiner gefühlvollen Freundesblase auch gibt. Ich vergesse sie meistens. Und dann treffe ich plötzlich Menschen, die ganz anders sind. Die es nicht ge- oder inzwischen schon wieder verlernt haben, empfindsam mit anderen umzugehen. Zu fühlen, was der andere braucht und entsprechend sensibel zu reagieren. Diese Menschen küssen dich am Bartresen, obwohl keinerlei Knisterei in der Luft lag. Sie merken nicht, wenn ein Gespräch unangenehm wird oder verderben lauschige Momente mit einem inhaltlichen Abriss über die Brownsche Molekularbewegung.
Während diese armen Egozentriker noch ein wenig niedlich daherkommen, weil sie es einfach nicht besser wissen und möglicherweise sogar in der Lage sind, sich emotional „fortzubilden“, gibt es auch noch eine andere Spezies: die Menschen, die die Gefühle anderer ignorieren, ja, vielleicht sogar ausnutzen.
Sie fragen uns zwei Wochen nach Beziehungsende, ob wir jetzt voll schlimm leiden oder, ob es denn nicht langsam wieder gut ist. In einem Zwiegespräch schauen diese Menschen uns mit leeren Augen an, wenn wir etwas erzählen und stellen
Für mich stellen Liebe und Mitgefühl eine allgemeine, eine universelle Religion dar. Man braucht dafür keine Tempel und keine Kirche, ja nicht einmal unbedingt einen Glauben, wenn man einfach nur versucht, ein menschliches Wesen zu sein mit einem warmen Herzen und einem Lächeln, das genügt.
keine Fragen. Sie nehmen nichts auf, was von uns kommt. Stattdessen reden sie im nächstbesten Moment über ein eigenes Thema.
Wenn ich mal wieder einen dieser kleinen Gefühlsgrobmotoriker getroffen habe, frage ich mich – zugegeben etwas polemisch – häufig, ob diese Menschen eigentlich Gefühle haben. Ich kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass es nicht so ist. Denn ich glaube fest, dass jeder Mensch mit der Fähigkeit zu Emotionalität und Mitgefühl geboren wird. Ob diese Fähigkeit genutzt wird, steht dann wohl auf einem anderen Blatt. Und dann schwanke ich: Was wäre schlimmer – wenn diese Menschen bewusst oder, wenn sie unbewusst handeln? Die Denker der schottischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts meinten dazu, Mitgefühl könne auch verschüttet oder von anderen selbstbezogenen Gefühlen verdrängt werden.
Herzensbildung
Jeder Mensch kommt mit Herz zur Welt und ich bin davon überzeugt, dass jeder sich nach Liebe sehnt. Sie fußt auf dem Interesse am Gegenüber und auf Akzeptanz. Liebe ist ja das Gefühl schlechthin. Es richtet sich auf andere Menschen – und im Idealfall noch vorher auf uns selbst. Lieben bedeutet Liebe in sich zu tragen und sie gleichermaßen für alle Menschen aufzubringen. Sie macht keine Unterschiede zwischen einzelnen Menschen.
Zu viel Empathie kann zu Selbstbenachteiligung, Ausnutzung und fehlender Abgrenzung führen. Am Ende wälze ich mich nächtelang schlaflos hin und her, weil eine meiner Freundinnen keinen neuen Job findet. Ich möchte für sie da sein, auch, wenn ich nicht immer aktiv helfen kann. Aber es bringt auch ihr nichts, wenn ich vor lauter Schlafmangel nicht mehr konzentriert mit ihr reden kann.
So liegt irgendwo zwischen verblendeter Empathie und kühler Rationalität ein Maß an Mitgefühl, das Friedrich Schiller Herzensbildung nannte. Wer ein gebildetes Herz hat, der spürt sowohl seine eigenen Emotionen als auch die seines Gegenübers und reagiert bedacht. Das ist nicht immer leicht. Aber es bringt uns näher zusammen. <