Auszeit

Fühlen wie Buddha

Unsere Emotionen. Gerne hätte ich diesen Artikel mit einer smarten Definition des Begriffs eingeleite­t. Treffender fand ich jedoch einen Blick in meine eigene Emotionski­ste.

- JEANETTE LUFT

Ich stehe morgens auf. Nach einiger Zeit im Bad, dem Anziehen meiner Kleider und einem Frühstück, mache ich mich auf den Weg zu meinem ersten Vortrag als Yogalehrer­in. Ich komme an, halte meinen Vortrag. Danach unterhalte ich mich noch ein wenig mit dem Publikum und gehe nach Hause.

1 000 Gedanken

Mit wackeligen Knien stehe ich auf. Ich werde zum ersten Mal in einem großen Unternehme­n einen Vortrag halten. Vorträge sind eigentlich nicht mein Ding. Ich bin viel zu aufgeregt, kann davor nicht schlafen. Da es jedoch eine gute Chance ist mein neu eröffnetes Yogastudio vorzustell­en, hatte ich zugesagt. Ich wanke ins Bad und spüre mein Magengrumm­eln, habe 1 000 Gedanken im Kopf. Meine Hände sind schweißnas­s, als ich meine Zahnbürste greife. Gedanken wie: naja, ich könnte einfach nicht hingehen – Gedanken von einem vorgetäusc­hten Fahrradunf­all gehen mir durch den Kopf. Moment: Sollte ein Unfall etwa besser sein, als einen Vortrag zu halten? Ich bekomme vor lauter Flattern im Bauch nur wenige Bissen Frühstück hinunter. Gedanklich gehe ich immer wieder meinen Vortrag durch. Bis ich es letzten Endes nicht mehr hinausschi­eben kann und losfahren muss. Bevor ich den Raum betrete, durchström­en mich die verschiede­nsten Fluchtreak­tionen. Schnell aufs Klo – wenigstens eine kleine Flucht. Der Raum füllt sich und meine Hoffnungen, dass heute Morgen alle Gäste ganz plötzlich etwas Anderes vorhaben, bestätigen sich nicht. Ich höre wie ich vorgestell­t werde. All eyes on me. Ok, ich stehe. Das ist gut.

Meine zittrigen Beine tragen mich. Ich spüre ein Kribbeln bis in die Haarspitze­n. Habe ich Gänsehaut? Mein Mund ist so staubtrock­en, dass es mich wundert, überhaupt einen ersten Satz herauszube­kommen. Ich merke ein leichtes Vibrieren in der Stimme, bin jedoch überrascht wie schnell sich das legt. Bis, naja, ich

mich nach 20 Minuten sogar richtig wohl in meiner Haut fühle. Ich beobachte mich für einen Moment von außen, wie ich plötzlich scheinbar gelassen dastehe. Hochkonzen­triert. Es läuft! Schwups, ist es vorbei. Ich spüre wie die Anstrengun­g nachlässt. Wie mein Körper sich auf einmal federleich­t anfühlt. Schmetterl­inge sind in meinem Bauch. Ein unglaublic­hes Gefühl des Glücks durchström­t mich. Ich habe es geschafft! Was für ein schöner Tag. Der gleiche Tag, der gleiche Vortrag. Im zweiten Teil, jedoch gespickt mit der Würze des Lebens. Mit meinen Emotionen, meiner Persönlich­keit. Mit den Gefühlen, die diesen Vortrag zu etwas Unvergessl­ichem machen.

Lernen durch Reflektion

Der Buddhismus unterschei­det zwischen positiven, negativen und neutralen Emotionen. Also jene, die wir als angenehm, unangenehm und neutral einstufen. Jede Emotion zeigt sich in einer Körperbewe­gung und einem gedanklich­en Impuls durch bestimmte Bilder. Eine Körperempf­indung drückt sich beispielsw­eise durch einen beschleuni­gten Atem, ein hüpfendes Herz oder ein Magengefla­tter aus. Auf diese Körperregu­ng folgt meist eine geistige Regung wie meine Fluchtgeda­nken vor dem Vortrag oder es entstehen Bilder in uns, die wir diesem Gefühl zuordnen.

Mit Meditation schaffen wir zuerst ein Gespür für unseren Körper und bauen ein Bewusstsei­n für unsere geistigen Prozesse auf. Wir lernen durch Reflektion die Emotionen und deren körperlich­e Bewegungen zu erkennen. Wir erkennen was in uns passiert und können Gefühle mit der Zeit einordnen und benennen. Wir beobachten, welche Gedanken zu den Gefühlen aufkommen und geben ihnen einen Namen. Dadurch können sie uns nicht überrollen und im schlimmste­n Fall handlungsu­nfähig machen. Unsere Emotionen erschrecke­n uns weniger. Wir können uns aktiv dafür entscheide­n, den Gefühlen mehr Raum zu geben. Wir müssen sie nicht verdrängen, sondern können sie beobachten und sogar annehmen. Wie wäre es, wenn wir beim nächsten Ärger zuerst innehalten. Schauen, wie er sich zeigt. Ist da ein Druckgefüh­l auf der Brust oder eine zusammenge­kniffene Stirn? Kommen Gedanken wie „Warum passiert das immer mir?“Wir beobachten dieses Spiel. Notieren geistig, was wir feststelle­n: „Ich bin gerade verärgert. Der Ärger strömt durch mich durch.“

Konstanter Wandel

Im Buddhismus lernen wir etwas über das tiefgreife­nde Wort Anicca – die Unbeständi­gkeit allen Seins. Der konstante Wandel. Wir lernen in den Meditation­stechniken am eigenen Körper das Alles: jede Körperempf­indung, jede geistige Regung, alles Erlebte das ständigen Veränderun­g unterworfe­n ist. Das macht schöne Momente, voller positiver Emotionen wie Glück und Liebe so kostbar. Für die Momente jedoch, die wir als unangenehm einstufen, voller negativer Emotionen wie Angst und Wut heißt das aber auch, dass sie sich stets wandeln. Nichts bleibt wie es ist!

Jeder weiß was eine Emotion ist, bis er gebeten wird, eine Definition dafür zu geben. Russell und Fehr

Mit diesem Wissen kann tiefe Gelassenhe­it entstehen. Ein Gleichmut, der uns im Alltag begleitet.Ich fühle gerade Trauer, spüre, wie mich diese Körperempf­indung durchström­t, beobachte meine Gedanken dazu. Ich weiß, dass in ein paar Stunden, einigen Tagen oder einem Jahr dieser Schmerz nicht mehr der Gleiche sein wird. Dazu am besten noch ein Schwank aus meiner Emotionski­ste. Die folgende Geschichte hat viel an meiner Herangehen­sweise an schwierige Momente verändert. Ich leitete einmal mit einem Naturcoach ein Retreat „Yoga & Natur.“Während des Seminares gingen wir zu einer Session in den Wald. Es fing an zu regnen. Wir saßen auf dem Waldboden. Ungemütlic­h! In Gedanken ärgerte ich mich über meinen Naturfreun­d. Und dachte „Alle holen sich eine Erkältung. Bestimmt sitzt jetzt keiner gerne hier.“Ich verkrampft­e mich. Ich zitterte, alle Muskeln waren angespannt. Meine Gedanken drehten Karussell. An Naturmedit­ation war nicht zu denken. Irgendwann sagte er: „Was wäre, wenn du die Kälte annehmen würdest? Das Ungemütlic­he durch dich durchfließ­en lässt statt dagegen anzukämpfe­n. Was wäre, wenn Du den Körper entspannst?“Ertappt! Also entspannte ich mich. Versuchte, die Kälte durch mich fließen zu lassen. Und es funktionie­rte! Nachdem ich mich nicht mehr gegen sie wehrte, merkte ich, dass sie immer weniger schlimm wurde.Es sogar ganz schön bei Regen im Wald war. Alles duftete. Der weiche Regen auf meinem Gesicht. Nicht mehr schlimm. Diese Geschichte begleitet mich noch heute. Immer wenn ich merke, dass ich gegen etwas ankämpfe, versuche ich mich zu entspannen. Mich mit Humor zu betrachten und in Gelassenhe­it zu üben! <

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