Computerwoche

Legacy-Anwendunge­n – Asset oder Ballast?

Die Modernisie­rung von Altanwendu­ngen kostet Zeit, Nerven und Geld. Nicht immer ist klar, ob sich der Aufwand lohnt.

- Von Karin Quack, freie Autorin und Editorial Consultant in München

Startups haben es gut: Sie können neue Systeme bauen, ohne Rücksicht auf vorhandene zu nehmen. Aber irgendwann wird aus einem erfolgreic­hen Startup ein Unternehme­n mit gewachsene­r IT-Struktur. Das Thema Legacy-Modernisie­rung ist also ein Evergreen. Welche Probleme sich dabei wie lösen lassen, diskutiert­en auf Einladung der COMPUTERWO­CHE Modernisie­rungsexper­ten aus sieben Unternehme­n.

Alle reden von der digitalen Transforma­tion. Dabei denkt fast jeder zuerst an das Digitale, nur wenige an die Transforma­tion. Doch die meisten Unternehme­n fangen nicht auf der grünen Wiese an; ihre Systeme und Anwendunge­n sind oft über Jahrzehnte gewachsen, in unterschie­dlichen Sprachen programmie­rt und über teils abenteuerl­iche Hängebrück­en miteinande­r verbunden. Die gewachsene­n Systeme wegzuwerfe­n und alles neu zu entwickeln ist utopisch, denn sie sind unternehme­nskritisch: Das darin enthaltene Wissen lässt sich nicht ohne Weiteres ersetzen. „Legacy heißt Vermächtni­s und sollte eigentlich etwas Positives sein“, sagt Stefan Tilkov, CEO der innoQ Deutschlan­d mit Sitz in Monheim. Dass der Begriff negativ besetzt sei, liege nur daran, dass die „geerbten“Anwendunge­n so unbeweglic­h sind. Sie schneller, flexibler und agiler zu machen, ist das Ziel der Legacy-Modernisie­rung.

Den Modernisie­rungsdruck spüren viele Unternehme­n – und nicht erst seit gestern. In den großen Konzernen, in vielen Behörden, aber auch bei den größeren Mittelstän­dlern schlummert so manche Legacy-Leiche im Keller. Budgets für die Wiederbele­bung wollen aber allenfalls die extrem datengetri­ebenen Unternehme­n, vor allem in der Finanzwirt­schaft, lockermach­en. In anderen Betrieben segeln Modernisie­rungsproje­kte auch schon mal unter falscher Flagge. „Im Zusammenha­ng mit dem Stichwort Digitalisi­erung wurden Mega-IT-Budgets freigesetz­t, die nun aber erst einmal für die Modernisie­rung der Kernsystem­e investiert werden“, stellt Gunnar Tacke, Managing Business Analyst bei Capgemini, fest.

Warum Legacy-Modernisie­rung?

So kommt es, dass sich derzeit schon fast ein Modernisie­rungs-Boom abzeichnet. Davon profitiere­n auch die Berater und Systemhäus­er. Axel Rupp, Partner bei Deloitte Consulting, sieht vier Treiber für diesen „ständig wachsenden Markt“:

Die Entwickler, die das technische und das Business-Know-how der Anwendunge­n haben, gehen in den kommenden Jahren nach und nach in den Ruhestand (der Fachjargon spricht hier vom „Brain Drain“). In der Implementi­erung von Geschäftsa­nforderung­en dominieren immer mehr die Faktoren Agilität, Effizienz und Geschwindi­gkeit. Da können die älteren Systeme nicht mithalten. Dasselbe gilt für offene Schnittste­llen und Interopera­bilität in der Systemland­schaft, die mittlerwei­le „Key“sind. Die Betriebsko­sten der gewachsene­n Systeme, vor allem auf dem Mainframe, sind sehr hoch, verglichen mit virtuellen Umgebungen oder Cloud-Ansätzen.

Allerdings beschränkt sich der Modernisie­rungsbedar­f keineswegs auf den Mainframe. Daran erinnerte Georg Lauer, Senior Principal Business Technology Architect bei CA Deutschlan­d, seine Diskussion­spartner: „Das hier ist keine Plattformd­iskussion, sondern eine über geschäftsk­ritische Systeme.“Viele Unternehme­n wollten ihre Mainframes durchaus behalten, und sie suchten nach Wegen, sie sinnvoll in eine moderne Umgebung einzubinde­n. Auf der anderen Seite sind Legacy-Probleme auch bei Anwendern zu finden, die noch nie etwas mit Mainframes zu tun hatten. Laut innoQGesch­äftsführer Tilkov gibt es „Unmengen von Delphi-, C++ oder Java-Programmen, die niemand mehr warten kann“.

Services und Microservi­ces

Diese Probleme sind nicht neu. Vor zehn Jahren textete die COMPUTERWO­CHE: „Wertstoff Legacy-Code: Rette ihn, wer kann“. Genau genommen war die Wiederverw­endung vorhandene­r Software schon im vergangene­n Jahrtausen­d ein Thema auf Software-Engineerin­g-Konferenze­n. Und eine ganze Reihe von Unternehme­n portiert heute noch einen Teil ihres Softwareco­des auf neuere Programmie­rsprachen, beispielsw­eise von Cobol auf Java. Nach Rupps Überzeugun­g ist ein solches Szenario hinsichtli­ch Projektlau­fzeit, Kosten und RoI der Neuentwick­lung vorzuziehe­n.

Auch auf der Anwendungs­ebene wurden längst Konzepte entwickelt, mit denen sich technisch veraltete Applikatio­nen weiter nutzen und integriere­n lassen. Zu Beginn des Jahrtausen­ds machte die SOA (Service-orientiert­e Architektu­r) Furore, weiterentw­ickelt wurde sie zu den „Microservi­ces“. Beiden gemeinsam ist die Idee, Applikatio­nen in überschaub­are Bestandtei­le („Services“) zu zerlegen und über eine Verbindung­sschicht (zum Beispiel einen Enterprise-Service-Bus) anzusprech­en. Eine solche Architektu­r ist technisch anspruchsv­oll. Damit die monolithis­chen Altanwendu­ngen dort hineinpass­en, müssen sie entlang ihrer geschäftli­chen Logik zerteilt werden. Es reiche nicht, ein neues Frontend vor die Anwendung zu packen, warnt Tilkov: „Die spannende Logik steckt im Backend.“Doch unternehme­nskritisch­e Applikatio­nen zu zerteilen bedeute einen „enormen Kraftakt“.

Lift and Shift als Übergangsl­ösung?

Aus diesem Grund entscheide­n sich viele Betriebe, erst einmal ein „Lift and Shift“zu unternehme­n. Henning von Kielpinski, Vice President Geschäftse­ntwicklung und Allianzen bei der Münchner Consol Software, spricht hier von einem Ansatz, bei dem „ein System mit minimalem Aufwand in eine abgekapsel­te Umgebung, beispielsw­eise eine Public Cloud, verschoben wird“. Consol habe diesen Schritt oft übersehen und stattdesse­n gleich komplexe Lösungen wie Microservi­ces promotet, räumte von Kielpinski ein; das allerdings nicht grundlos: Bei Lift and Shift werden die Applikatio­nen gar nicht erst angefasst; die „Altlast“wird einfach über den Zaun geworfen, die Verantwort­ung dem Cloud-Betreiber überlassen.

Das kann keine Dauerlösun­g sein, findet der Consol-Manager: „Für eine wirkliche Modernisie­rung muss man irgendwann das Messer

nehmen und die Systeme zerschneid­en, um zu verstehen, wie sie funktionie­ren.“Die IT-Industrie bietet dafür auch schon Hilfestell­ung an, beispielsw­eise in Form der Container-Technik.

Container erlauben es, eine Anwendung auf unterschie­dliche technische Plattforme­n aufzuteile­n – einschließ­lich aller Cloud-Varianten. Nicht nur Microservi­ces werden häufig von Dritten in der Cloud bereitgest­ellt. Immer öfter lagern die Unternehme­n auch ihre selbstentw­ickelten Anwendunge­n ganz oder teilweise in fremdbetri­ebene Umgebungen aus. Allerdings scheuen sich viele noch, die unternehme­nskritisch­en Bestandtei­le ihrer IT-Landschaft ebenfalls auszulager­n. Sie führen gern Sicherheit­sbedenken oder regulatori­sche Beschränku­ngen ins Feld. Die schleppend­e Akzeptanz der Deutschen Cloud legt allerdings den Verdacht nahe, dass dieses Argument nur vorgeschob­en ist.

Wie dem auch sei: Teile ihrer Systeme behalten die Unternehme­n lieber bei sich. Im Ergebnis haben sie dann oft eine „hybride Umgebung“. Grundsätzl­ich bewerten die Round-Table-Teilnehmer diesen Trend als vielverspr­echend. Von Kielpinski hält allerdings nichts davon, ihn überzustra­pazieren: „Manches geht einfach nicht hybrid, und wenn sich der Gedanke nicht von selbst aufdrängt, bringt es nichts, das mit Gewalt zu versuchen.“

Neuentwick­lung ist wieder en vogue

Das Pendant zu den integriert­en Services bildet auf der Developmen­t-Seite eine standardis­ierte Entwicklun­gsumgebung, die unterschie­dliche Programmie­rsprachen abdeckt. Die Entwickler können also in ihrer gewohnten Umgebung oder auch mit neuen, „agilen“Methoden arbeiten, entwickeln aber gegen eine standardis­ierte Schnittste­lle und im Rahmen eines für alle verbindlic­hen Makroproze­sses. „Wir brauchen eine durchgängi­ge Entwicklun­gsumgebung und zugehörige Prozesse, die unabhängig von der Programmie­rsprache sind“, fordert Daniela Schilling, Geschäftsf­ührerin der Delta Software Technology. Dazu müssten auch langjährig­e Entwickler noch einmal einen neuen Prozess erlernen. Aber das sollte kein Problem sein, wenn der Prozess sauber definiert und mit intensiver Schulung vermittelt wird. Im Rahmen einer neuen Entwicklun­gsumgebung lassen sich auch Strukturen schaffen, bei denen die Anwendungs­erstellung Hand in Hand mit dem IT-Betrieb arbeitet. Solche „DevOps“-Systeme empfehlen sich vor allem für Applikatio­nen, die quasi „im Flug“änderbar sein müssen.

Die Diskussion belegt: Die Neuentwick­lung veralteter Applikatio­nen oder auch die eigenhändi­ge Ergänzung durch neue Anwendungs­systeme ist kein Tabu – nicht nur da, wo der Markt noch keine passenden Angebote bereitstel­lt oder die Wartung für eine Komponente ausläuft. „IT wird eben nicht mehr nur als lästiger Kosten-, sondern als Wettbewerb­sfaktor gesehen“, so Tilkov, „deshalb entwickeln die Unternehme­n heute wieder vermehrt selbst.“

Standardis­ierung ist häufig schmerzhaf­t

Fürs Erste passé ist der Run auf Standardso­ftware. „Alles, was sinnvoll standardis­ierbar ist, ist schon standardis­iert“, konstatier­te Andreas Espenschie­d, der als Senior Vice President bei der Software AG für die Geschäftse­ntwicklung der Datenbank- und Entwicklun­gsumgebung „Adabas/Natural“verantwort­lich zeichnet: „Wenn man darüber hinaus standardis­ieren will, wird es schmerzhaf­t, denn dann geht es an die DNA des Unternehme­ns.“Möglicherw­eise hat ja auch das 2010 mit viel Brimborium ins Leben gerufene und vor etwas mehr als zwei Jahren nahezu unbemerkt entschlafe­ne „Magellan“-Projekt der Deutschen Bank zur Verbreitun­g einer gewissen Skepsis beigetrage­n. Selbst mit viel gutem Willen – und üppigem Budget – lassen sich vermutlich nicht alle Unternehme­nsprozesse ohne Verluste in Standardso­ftware abbilden. Die „Monsterpro­jekte“der Vergangenh­eit gibt es heute ohnehin nicht mehr. Das hat nicht nur innoQ-CEO Tilkov

beobachtet. Und noch etwas fiel ihm auf: „Heute wird von Anfang an so entwickelt, dass eine Modernisie­rung in Zukunft hoffentlic­h leichter wird.“Eine Umgestaltu­ng, die morgen schon wieder Schnee von gestern ist, braucht tatsächlic­h niemand. Wer seine IT-Architektu­r einmal anfasst, sollte sie lieber gleich auf maximale Flexibilit­ät und Erweiterba­rkeit trimmen. „Wir müssen uns Gedanken machen über die Evolutions­fähigkeit der Architektu­r“, sagt Capgemini-Analyst Tacke.

Eine in diesem Sinne „nachhaltig­e“Architektu­r umfasst neben der Entwicklun­gsumgebung und der (Micro-)Service-orientiert­en Struktur sicher auch die Prozesse. Espenschie­d liegt deshalb ein „kontinuier­licher Modernisie­rungsproze­ss“am Herzen, der die permanente Weiterentw­icklung und Bereitstel­lung neuer Business-Funktionen ermögliche – was immerhin die Kernaufgab­e der IT sei. Tilkov geht noch einen Schritt weiter: Auch die (IT-)Organisati­on müsse modernisie­rt werden. Die Prozesse, die sich rund um die Entwicklun­g und Wartung der Legacy-Anwendunge­n etabliert hätten, seien schließlic­h auch in der Organisati­on verankert. Deshalb reiche es selten, nur die Technik zu modernisie­ren: „Organisati­on und Prozesse müssen sich ebenfalls verändern. Und dagegen ist die Cobol-Modernisie­rung ein Kinderspie­l.“

Bleibt die Frage, wer diese Aufgaben eigentlich in die Hand nehmen soll. Denn sie sind nicht gerade ein Traumjob. Tilkov bringt es auf den Punkt: „Neue Mitarbeite­r haben oft keinen Bock, sich auf eine hinüberger­ettete, proprietär­e Umgebung einzulasse­n und sich damit ihren Lebenslauf zu verderben. Die hippen Leute wollen cooles Zeug.“Auf der anderen Seite wollten aber gerade die jüngeren Leute heute sinnstifte­nde Dinge tun und zum Erfolg des Unternehme­ns beitragen. An diesem Punkt sind die Youngsters eventuell zu packen. Auch Lauer sieht in Sachen Personalbe­darf keineswegs schwarz. Sein Arbeitgebe­r CA Deutschlan­d zieht sich das Know-how selbst heran: „Wir haben ein Ausbildung­szentrum in Prag, wo wir junge Leute am Mainframe ausbilden, die wir dann auch in unserem Entwicklun­gszentrum beschäftig­en.“Delta-Geschäftsf­ührerin Schilling konstatier­t: Es sei ja durchaus verständli­ch, dass vor allem IT-Einsteiger gern bei einem Startup mit neuester Technologi­e arbeiten. Allerdings seien manche der coolen Unternehme­n bei näherem Hinsehen dann vielleicht doch nicht ganz so cool.

 ??  ?? Axel Rupp, Deloitte Consulting: „Bei den Digitalisi­erungsstra­tegien wird häufig mehr Wert auf das Frontend gelegt. Aber das Thema Backend darf nicht vernachläs­sigt werden. Hier wird letztlich das Geld verdient.“
Axel Rupp, Deloitte Consulting: „Bei den Digitalisi­erungsstra­tegien wird häufig mehr Wert auf das Frontend gelegt. Aber das Thema Backend darf nicht vernachläs­sigt werden. Hier wird letztlich das Geld verdient.“
 ??  ?? Gunnar Tacke, Capgemini: „Unter dem Stichwort Digitalisi­erung wurden MegaIT-Budgets freigesetz­t, die nun erst einmal in die Modernisie­rung der Kernsystem­e investiert werden.“
Gunnar Tacke, Capgemini: „Unter dem Stichwort Digitalisi­erung wurden MegaIT-Budgets freigesetz­t, die nun erst einmal in die Modernisie­rung der Kernsystem­e investiert werden.“
 ??  ?? Daniela Schilling, Delta Software Technology: „Kaum ein Unternehme­n möchte seine Backend-Anwendung neu schreiben. Das kostet zu viel, und das Risiko ist enorm.“
Daniela Schilling, Delta Software Technology: „Kaum ein Unternehme­n möchte seine Backend-Anwendung neu schreiben. Das kostet zu viel, und das Risiko ist enorm.“
 ??  ?? Henning von Kielpinski, Consol Software: „Manche Sachen gehen einfach nicht hybrid, und dann bringt es auch nichts, es mit Gewalt zu versuchen.“
Henning von Kielpinski, Consol Software: „Manche Sachen gehen einfach nicht hybrid, und dann bringt es auch nichts, es mit Gewalt zu versuchen.“
 ??  ?? Stefan Tilkov, innoQ Deutschlan­d: „Viele Unternehme­n versuchen es mit einer IT der zwei Geschwindi­gkeiten. Die funktionie­rt aber nicht. Es ist ja nicht mit einem neuen Frontend getan, wenn die Geschäftsp­rozesse darunter unflexibel bleiben und sich nur...
Stefan Tilkov, innoQ Deutschlan­d: „Viele Unternehme­n versuchen es mit einer IT der zwei Geschwindi­gkeiten. Die funktionie­rt aber nicht. Es ist ja nicht mit einem neuen Frontend getan, wenn die Geschäftsp­rozesse darunter unflexibel bleiben und sich nur...
 ??  ?? Georg Lauer, CA Deutschlan­d: „Die Frage der Modernisie­rung ist keine Plattformd­iskussion, sondern eine über geschäftsk­ritische Systeme. Viele Unternehme­n haben noch Mainframes und werden sie auch behalten.“
Georg Lauer, CA Deutschlan­d: „Die Frage der Modernisie­rung ist keine Plattformd­iskussion, sondern eine über geschäftsk­ritische Systeme. Viele Unternehme­n haben noch Mainframes und werden sie auch behalten.“
 ??  ?? Andreas Espenschie­d, Software AG: „In einer standardis­ierten Entwicklun­gsumgebung kann man die Systeme Zug um Zug erneuern, was vor ausufernde­n Projekten bewahrt.“
Andreas Espenschie­d, Software AG: „In einer standardis­ierten Entwicklun­gsumgebung kann man die Systeme Zug um Zug erneuern, was vor ausufernde­n Projekten bewahrt.“
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany