Donau Zeitung

Und alle schauen zu

Kriminalit­ät Vergewalti­gung oder Tierquäler­ei – Verbrecher stellen ihre Gewalttate­n immer öfter live ins Netz. Eine Psychologi­n erklärt, warum sie das tun und wer sich so etwas anschaut

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg In der US-amerikanis­chen Stadt Chicago verschwind­et eine 15-Jährige. Wenig später zeigen Jugendlich­e ihrem Onkel ein Video: Es zeigt, wie das Mädchen von einer Gruppe vergewalti­gt wird. Alleine das wäre schon schlimm genug. Zuvor hatten die Täter ihr Verbrechen auch in Echtzeit ins Internet übertragen. Bis zu 40 Menschen haben sich das Live-Video angeschaut, schreibt die Zeitung Chicago Tribune. Zur Polizei ging niemand. Zwei Tage nach ihrem Verschwind­en findet die Polizei die 15-Jährige schließlic­h und bringt sie nach Hause. Etwa eine Woche ist der Vorfall her und er lässt einen ratlos zurück. Zumal es auf Facebook schon häufiger Echtzeit-Videos von Verbrechen gab.

Knapp ein Jahr ist es her, dass Facebook die Live-Funktion eingeführt hat. Sie ermöglicht es Nutzern, live auf Sendung zu gehen. Zwei Klicks reichen aus, um alles, was man selbst sieht und tut, mit der Welt zu teilen. Eigentlich soll die Funktion die Möglichkei­t bieten, besondere Momente zu teilen, sagt Facebook. Und die überwiegen­de Mehrheit der Menschen nutzt die Funktion auch auf diese Weise. Auf einer Weltkarte kann man sich anzeigen lassen, wer gerade wo etwas überträgt. Das meiste, was zu sehen ist, ist nicht besonders spannend: Sportveran­staltungen, Schminktip­ps oder Gottesdien­ste. Doch der Vorfall in Chicago war eben auch nicht das erste Mal, dass Täter die Funktion für ihre Verbrechen missbrauch­ten.

Ende Januar zeigten zwei Männer in Uppsala in Schweden live, wie sie dem Anschein nach eine Frau vergewalti­gen. Sie machten das Video auf Facebook einer Gruppe mit 60000 Mitglieder­n zugänglich. 200 sollen sich die Übertragun­g angesehen haben. Anfang Januar quälten vier junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren einen 18-jährigen geistig behinderte­n Mann. Sie knebelten und fesselten ihn, zwangen ihn Toilettenw­asser zu trinken und schnitten ihm ein Stück Kopfhaut ab. Zwischendu­rch beschimpft­en sie ihn. Im September machte ein Amerikaner Schlagzeil­en, der eine Schildkröt­e in Brand steckte. Erst kündig- te er an, das Tier in Brand zu setzen, wenn er 100 Zuschauer fände. Dann übergoss er es mit Alkohol und setzte die Flüssigkei­t in Flammen. Er wollte es erst wieder löschen, wenn er 200 Zuschauer gefunden hätte. Die Polizei schritt ein und löschte das Tier. All das war live zu beobachten.

„Mich verwundert diese Entwicklun­g nicht“, sagt die Kriminalps­ychologin Ursula Gasch. „Technische Entwicklun­g geht immer mit einem Missbrauch einher. Der Mensch nutzt das aus, was er hat.“Trotzdem fragt man sich: Warum übertragen Verbrecher ihre Gräueltate­n live? Die Frage ist nicht ganz so einfach zu beantworte­n, sagt die Tübinger Kriminalps­ychologin Gasch. „Viele dieser Menschen sehen sich gar nicht als Straftäter“, sagt sie. Manche suchten einen Kick. „Es geht dabei auch um Macht. Sie haben das Gefühl: Die Menschen, die mir zuschauen, sehen nur, was ich will.“Das verleihe ihnen gewisse Stärke und gliedere sie in eine Gemeinscha­ft ein.

„Wenn man mit ihnen spricht und sie fragt, ob sie selbst wollten, dass ihnen das passiert, schämen sich manche. Andere sind schon so abgestumpf­t, dass sie den Vorfall banalisier­en. Sie antworten, dass man doch noch viel Schlimmere­s zu sehen bekomme“, erzählt die Psychologi­n.

Auch Facebook weiß, dass die Funktion missbrauch­t wird. „Wir sind uns unserer Verantwort­ung bewusst und verstehen die Herausford­erungen, welche Facebook Live mit sich bringt“, teilt der Konzern gegenüber unserer Zeitung mit. Deshalb werde das weltweite Team, das die Inhalte überprüft, vergrößert. Allein für den deutschen Markt sollen bis Ende des Jahres 700 Mitarbeite­r zuständig sein.

Allerdings sind sich Facebook, die Polizei und die Kriminalps­ychologin Gasch einig, dass die Verantwort­ung auch woanders liegt – bei den Nutzern. Sie sollen Dinge, die gegen Facebook-Regeln verstoßen, melden, heißt es von dem Unternehme­n. Eine Mitteilung sei auch ein wichtiger Weg, damit die Polizei von solchen Verbrechen erfährt, teilt das Bayerische Landeskrim­inalamt mit. Und Gasch sagt: „Menschen, die sich auf Facebook die Übertragun­g eines Verbrechen­s anschauen, unterschei­den sich nur geringfügi­g von jenen, die bei einem Unfall stehen bleiben, um zu filmen.“Also von Schaulusti­gen. Und das Gaffen hat in der Menschheit­sgeschicht­e eine lange Tradition. Man denke nur an Gladiatore­n, die wilden Tieren zum Fraß vorgeworfe­n wurden, sagt die Psychologi­n. Der Mensch sei einerseits angewidert, anderersei­ts gebannt. Das lasse ihn nicht wegschauen. „Dadurch, dass heute überall bewegte Bilder verfügbar sind, jagt ein Ereignis das nächste. Wir drohen abzustumpf­en, zu verrohen. Uns geht die Empathie verloren.“

Hinnehmen sollte man das ihrer Ansicht nach nicht. „Wir sind jetzt auf einer neuen Stufe. Die technische­n Möglichkei­ten haben sich weiterentw­ickelt und wir müssen uns auch anpassen.“

 ?? Symbolfoto: Sebastian Gollnow, dpa ?? Eigentlich sollten Menschen mit der Live Funktion bei Facebook Dinge übertragen können, die sie bewegen. Doch missbrauch­en Kriminelle die Möglichkei­t, um Straftaten zu zeigen.
Symbolfoto: Sebastian Gollnow, dpa Eigentlich sollten Menschen mit der Live Funktion bei Facebook Dinge übertragen können, die sie bewegen. Doch missbrauch­en Kriminelle die Möglichkei­t, um Straftaten zu zeigen.

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