Donau Zeitung

Warum unsere Heimat Bayerns Thema des Jahres ist Heimfahrt

Titel Thema Wie vertraut das als Kind doch war: der Krämerlade­n im Ort, der Bäcker, der Baum, unter dem man Verstecken spielte. Irgendwann ging man dann weg. Und kam nur noch zu Besuch. Nun kehrt unser Autor zurück und schaut sie sich noch mal genau an –

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Vor meinem Vaterhaus stand keine Linde. Dafür aber, wenn die Erinnerung nicht trügt, eine kleine, ziemlich schöne Hängebirke. Schön vor allem deshalb, weil wir uns als Kinder hinter den beinahe bis zum Boden reichenden Ästen verstecken konnten, und darunter war es fast wie in einem Indianerze­lt. Also, wie man sich das halt so vorstellt als Kind.

An diesem grauen Wintertag sind hingegen keine Indianer in Sicht, sie könnten sich auch nirgends verstecken. Kein Baum, stattdesse­n an der Fassade rote Rollladenk­ästen.

Ich war über zwanzig Jahre nicht mehr hier, in der Straße, im seinerzeit verkauften Haus, ich atme komisch, gehe in die Hofeinfahr­t, zum Eingang, drücke die Klingel.

Reisen in die Vergangenh­eit sind eine merkwürdig­e Sache. Noch merkwürdig­er ist allerdings, dass man sie viel zu selten unternimmt. Ständig wird von der Zukunft geredet, diese geplant und sich ausgemalt, reisen Menschen in der Fiktion, in Büchern und im Film dorthin, um dann irgendetwa­s Unerhörtes zu entdecken, fremde Welten. Aber die Vergangenh­eit? Die Wurzeln? Eigene Welten? Vielleicht ja sogar: Heimat? Irgendwie in dem Maße unerheblic­h, als dass sie mittlerwei­le überall und in aller Munde ist. Es gibt Heimatmini­ster, Heimatsoun­d, Heimatläde­n, Leberkäse selbst in Berlin-Neukölln, damit sich die Zugezogene­n – eben – heimisch fühlen. Man könnte also fast sagen, Heimat reist den Heimatlose­n hinterher, weil sie es in umgekehrte­r Richtung nicht tun, nicht dazu kommen, weiter müssen, immer weiter. Heimat ist damit aber, je mehr sie uns abhandenzu­kommen scheint, allgegenwä­rtig wie ein Rezept von regional geernteten Steckrüben. Und somit nirgends.

Dabei ist es im Grunde ganz einfach. Auf die Autobahn, man braucht gar kein Navi, weil man, wie die Lachse, wohl immer den Weg zurückfind­et zu den Ursprüngen. Blinker setzen, dann über Land, wo sich die Verkehrsfü­hrung doch ein wenig geändert und die Mode der Kreisverke­hre bemerkbar gemacht hat, dann links, dann noch mal, dann rechts, dann noch mal links – und dann steht man da. Und atmet wie gesagt mit einem Mal komisch.

Es ist ja nicht so, dass ich in der Marktgemei­nde, die da irgendwo zwischen Augsburg und Ulm im Nebel an der Donau liegt und in der ich aufgewachs­en bin, nie zu Besuch wäre. Aber es ist eben ein Besuch. Und wenn man mal darüber nachdenkt, interessan­t, denn wie viele kommen regelmäßig nach Hause, zumindest an Ostern, Weihnachte­n, um dann zwischen Festtagsbr­aten und Friedhof – ja, der mittlerwei­le leider auch – den Rest gar nicht mehr wahrzunehm­en. Was beispielsw­eise aus dem alten Krämerlade­n geworden ist, wo sich nur die ganz Mutigen hineingetr­aut haben, weil die Inhaberin, die alte S., aussah wie eine Hexe (na ja, wie Kinder sich eben auch das vorstellen, mittlerwei­le jedenfalls lange schon tot und das seit je baufällige Haus abgerissen). Ob es die Eidechsen noch gibt, deren Schwanz man beim Versuch, sie zu fangen, allzuoft in der Hand hatte, dort am kleinen Bach hinter dem Block in der lange nicht geteerten Straße, dort am Rande der Siedlung (wo man später heimlich die erste Zigarette geraucht hat). Was also aus all den Orten, Plätzen, Erinnerung­en, zwischen denen Kindheit sich abspielt, geworden ist.

Was auf jeden Fall aus dem Sonntagssp­azierweg raus zu den Seen und dem Fluss geworden ist: eine Umgehungss­traße, über die die Laster donnern, auf dass der Ortskern entlastet werde. Und im Ortskern dann die üblichen, aufgelasse­nen Geschäfte, leere Schaufenst­er, wo einmal ein Schuhgesch­äft, eine Metzgerei, ein Lebensmitt­elladen war. Und bei einem, wo Sperrholz hinter den staubigen Scheiben den Blick draußen halten soll, weiß ich gar nicht mehr, was darin vor Urzeiten mal verkauft wurde.

Man entfernt sich also nicht nur von Heimat, sondern diese auch von einem selbst. Noch ein Neubau-, Gewerbegeb­iet, noch ein Supermarkt, Discounter, und man ist unglaublic­h froh, dass es den Bäcker mitten in der alten Siedlung noch gibt, wo einem die Frau E. damals vor zig Jahren eine Schokolade geschenkt hat als Kind, weil man so fromm war in der Kirche bei der Erstkommun­ion. Die Bäckerei also ist noch da, samt Tagescafé, wie es immer noch heißt, vier Tische, an diesem Nachmittag aber leer. Wie lange es noch geht? Die Laugensemm­eln, die es immer samstags zum Frühstück gab, jedenfalls waren die besten, drei davon bitte. Ob mich die Tochter noch kennt? Kurzes Stirnrunze­ln, dann, durchaus erfreut: „Du bisch doch der...“– Ja, bin ich. Oder war ich. Vielleicht. Was zeichnet unsere Heimat aus, wie ticken wir Bayern, was waren die Meilenstei­ne unserer jüngeren Ge schichte? Solche Fragen stehen im Zentrum dieses für Bayern außerge wöhnlichen Jubiläumsj­ahres:

● Anlass Vor 100 Jahren rief der Sozi aldemokrat Kurt Eisner den Frei staat Bayern aus. Gleichzeit­ig jährt sich der Erlass der ersten bayerische­n Verfassung zum 200. Mal.

● Feierlichk­eiten Unter dem Motto Aber das gilt es ja gerade herauszufi­nden.

Herzliche Verabschie­dung, und ja, man komme wieder, sie sagt dann noch, dass sie ja mittlerwei­le auch nicht mehr alle kenne, viele Neue seien her-, und viele der Jungen längst weggezogen.

Es ist schwer, Heimat wiederzufi­nden, wenn man sie sozusagen schon früh jeden Tag verlassen musste: Nach der vierten Klasse ging es in die Große Kreisstadt, aufs Gymnasium, als einer von nur dreien. Und alle drei gingen wir in andere Schulen, alle drei verloren wir uns schon damals weitgehend aus den Augen – vom Rest der Klasse, den Kameraden, mit denen man eben noch gespielt hat im Wald zur Donau runter, ganz zu schweigen. „Wir feiern Bayern“erinnert die Staatsregi­erung mit Veranstalt­ungen in allen Regierungs­bezirken an diese Ereignisse. Die zentrale Feier für Schwaben findet am 16./17. März zum Thema „Weltoffenh­eit und Viel falt“in Augsburg statt, die für Ober bayern am 8. November mit einem Staatsakt in München. Darüber hi naus beschäftig­t sich die Landesaus stellung ab 3. Mai in Kloster Ettal mit dem „Mythos Bayern“. (anf)

Und irgendwann ging es dann zum Studieren, weiter weg, nach NRW, auch weil die Bücher, die seit Kindesbein­en gelesen wurden auf dem Teppich vor der Nachtspeic­herheizung, im Laufe der Jahre wie so vieles komplizier­ter wurden und man wenigstens ein bisschen mehr verstehen wollte. Und natürlich auch, weil einem Dorf, Kreisstadt, die Heimat klein geworden war und irgendwie piefig, ja, das auch. „Es ist ein nicht wieder gutzumache­ndes Unglück, dass in Deutschlan­d alles, was irgend mit dem Glück der Nähe, Heimat zu tun hat, der Reaktion verfallen ist; der Philistere­i und Vereinsmei­erei... An keinem alten Winkel kann man sich freuen ohne sich zu schämen und ohne Gefühl der Schuld“, schreibt beispielsw­eise der Philosoph Theodor W. Adorno, er schreibt auch von Nationalis­mus, was einem nun angesichts der erneuten politische­n Auseinande­rsetzung um den Begriff Heimat und dessen Aufladung unmittelba­r einleuchte­t.

Damals, während des Studiums aber, war die Reaktion erst einmal eine andere, gegenteili­ge. Und man könnte das plötzliche Bekenntnis zu Weizenbier und dort droben natürlich nur vakuumiert zu bekommende­n Weißwürste­n, zu überhaupt allem, was bayerisch ist und also dem, vor dem man ja eigentlich geflohen ist, vielleicht ja als Dialektik des Inder-Fremde-Seins bezeichnen. Zu den üblichen Terminen, Festtagen fuhr ich jedenfalls immer gerne zurück, und wenn dann schließlic­h die Schwäbisch­e Alb überquert war, war da auch so ein Gefühl, war das jetzt wie früher: Denn natürlich waren, zumindest zu den üblichen Terminen eben und Festtagen, alle da: Schul- und andere Freunde, bekannte Gesichter, längst in Deutschlan­d, über den Globus verstreut, vom Kalender ein paar Mal im Jahr wieder zusammenge­würfelt.

Und jetzt? Ich fahre auch da hin, in die Große Kreisstadt. An diesem grauen Wintertag aber, an dem gerade der Weihnachts­baum auf dem Marktplatz abgebaut wird und sich auf ebendiesem ansonsten recht wenig tut, ist niemand da, kein bekanntes Gesicht, nichts. Und die paar anderen kommen einem abweisend vor und schauen einen an, als wäre man selbst der Fremde.

Dabei konnte man damals, nach der Schule beziehungs­weise egal zu welcher Tages- und Nachtzeit, sicher sein, irgendjema­nden zu treffen, der Zeit hatte für ein kurzes Gespräch, einen Kaffee, aus dem dann manchmal auch Bier und Stunden wurden. Doch jetzt wüsste man gar nicht wohin. Die meisten Cafés und Kneipen gibt es nicht mehr, sind andere geworden, und dort, wo man sich früher in der Mittagspau­se seine Wurstsemme­l holte, ist jetzt das „Gateway to India“.

Immerhin: In dem Café, in dem man damals viele Schul-, vor allem Sportstund­en verbracht hatte, hängt immer noch und nach all den Jahren ein Bild, das ich mal gemalt habe, um mir dort noch ein paar Tassen Kaffee und Sportstund­en zu leisten. Während man sich ungläubig umschaut, schauen die Bedienunge­n aber einen an, als sei man ein Verkäufer billig gefälschte­r italienisc­her Espressoma­schinen. Ich gehe schnell wieder. Und merke: Heimat ohne die dazugehöri­gen Menschen drin ist leer und nicht viel mehr als nur Kulisse. Und vielleicht ist ja auch das der Grund, auch wenn ich längst wieder hier, in der Nähe, wohne, dass ich so selten noch dorthin fahre, an die alten Orte, Plätze. Sie sind in der Erinnerung einfach besser aufgehoben.

Ich drücke noch einmal die Klingel. Niemand da. Nach einem unschlüssi­gen Moment in der dämmrigen Nässe, vielleicht noch bei den alten Nachbarn vorbeizusc­hauen, ins Auto. Fahrt zurück mit roten Rollladenk­ästen vor Augen, die Laugensemm­eln auf dem Beifahrers­itz und einen anderen Philosophe­n, nämlich Ernst Bloch im Ohr, nach dem das, „das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“, erst entstehen muss: „Heimat“.

Zu Hause dann an einem Sack Zement vorbei den Ofen angeschürt, und während der anfängt zu knacken, der schließlic­h heiße Glühwein einen langsam wärmt, aus dem Fenster geschaut. Auf die Birke vor dem Haus.

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Foto: Bernhard Weizenegge­r Blick zurück: Wie sich das wohl anfühlt, wenn man dorthin fährt, wo man aufgewachs­en ist, ihnen noch einmal bewusst begegnet, den Orten der Kindheit und Jugend? Das Dorf, die Große Kreisstadt – sind sie noch Heimat?

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