Donau Zeitung

Die Corona‰Jäger

Das Virus verbreitet sich rasant. In den Gesundheit­sämtern versucht man verzweifel­t, die Kontaktper­sonen der Infizierte­n zu ermitteln und die Übertragun­g einzudämme­n. Eine Geschichte über einen Job am Limit und die Frage, wie lange das noch gut geht

- VON STEPHANIE SARTOR

Dillingen Die Detektivar­beit beginnt in einem nüchternen Büro. Schreibtis­che. Deckenstra­hler. PVC-Fußboden. Telefone. Durch das Fenster blickt man auf einen bergseebla­uen Herbsthimm­el, der so gar nicht zu der trüben Stimmung passen will, die das ganze Land erfasst hat. In diesem Zimmer geht sie also los, die Jagd. Auf einen Feind, der unsichtbar ist. Und der seit Monaten unser ganzes Leben verändert.

Birgit Rieß rückt ihr Headset zurecht, bevor sie anfängt zu erzählen. Auf dem Telefon vor ihr kleben gelbe Notizzette­l, über der Rückenlehn­e ihres Bürostuhls baumelt ein geblümter Schal. „Die Arbeit ist sehr wichtig. Aber auch sehr kräftezehr­end“, sagt sie. Rieß ist im Gesundheit­samt der Stadt Dillingen die Frau für schlechte Nachrichte­n. Sie ist es, die die Menschen anruft, um ihnen zu sagen, dass ihr CoronaTest positiv ausgefalle­n ist. Und sie ist es, die etwas in Gang setzt, über das in diesen Tagen überall gesprochen wird: die Kontaktnac­hverfolgun­g. Die Detektivar­beit also, mit der die Verbreitun­g des Virus eingedämmt werden soll. Nur: Das wird von Tag zu Tag schwierige­r.

An jenem kalten Novembermo­rgen, an dem Birgit Rieß im beschaulic­hen Dillingen an ihrem Schreibtis­ch sitzt, verkündet das Robert Koch-Institut wieder einen neuen Corona-Höchstwert. 19900 NeuInfekti­onen werden an jenem Tag gemeldet, 24 Stunden später sind es erstmals mehr als 20000. Diese schnell steigenden Zahlen haben massive Auswirkung­en auf die Arbeit

in den Behörden. Anfang November haben 41 von 375 deutschen Gesundheit­sämtern dem Robert Koch-Institut eine aktuelle oder drohende Überlastun­g gemeldet. Also etwa jede neunte Behörde. Am 20. Oktober lagen erst 22 solcher Fälle vor.

Das große Problem dabei ist: Die Engpässe betreffen besonders häufig die Kontaktnac­hverfolgun­g, also jenes Instrument, das die Welle, die das ganze Land derzeit mit voller Wucht trifft, durch das Aufbrechen von Infektions­ketten abflachen soll. Viele Ämter seien nicht mehr in der Lage, die Kontakte jedes Einzelnen nachzuverf­olgen, sagt Bundeskanz­lerin Angela Merkel vor wenigen Tagen. Sie macht deutlich: „Weil viele Gesundheit­sämter die Kontaktnac­hverfolgun­g nicht mehr schaffen, haben wir jetzt eine Situation, bei der in 75 Prozent der Fälle, also drei Viertel der Fälle, die Infektione­n nicht mehr zugeordnet werden können.“

Der Appell des Robert Koch-Instituts klingt beinahe flehentlic­h: Ja, die Überlastun­g der Gesundheit­sämter sei ernst und besorgnise­rregend. Doch sie müssten jede Anstrengun­g aufrechter­halten und dürften nicht aufgeben. Nur: Wie soll das gehen, wenn viele Ämter bereits am Limit sind? Was passiert, wenn die Zahlen weiter in einem derart rasanten Tempo steigen? Wird es dann noch möglich sein, einzelne Kontakte zu verfolgen?

Wenn Birgit Rieß vom Dillinger Gesundheit­samt einen positiv Getesteten anruft, dann geht es vor allem um die Frage, wen er in den vergangene­n Tagen getroffen hat – und hätte anstecken können. „In der Regel können sich die Menschen schon noch erinnern, mit wem sie Kontakt hatten. Der Zeitraum, in dem eine Ansteckung erfolgen kann, ist ja nicht so groß“, sagt Rieß. Wenn sie die Informatio­nen hat, verteilt sie die Liste mit den Kontakten an ihre Kollegen. Und dann beginnt das Hinterhert­elefoniere­n.

Einer, der das übernimmt, ist der Bundeswehr­soldat Hermann S. Er wurde – wie so viele Soldaten in ganz Deutschlan­d – gebeten, bei der Kontaktnac­hverfolgun­g in Dillinge gen zu helfen und arbeitet nun als sogenannte­r Contact-Tracer. Seinen Nachnamen möchte der junge Mann mit den dunkelblon­den Haaren nicht in der Zeitung lesen. „Die erste Frage ist immer die: Wie eng war der Kontakt mit der infizierte­n Person?“, erzählt er. Als Kontaktper­son 1 gilt demnach, wer sehr engen Kontakt hatte. Als Kontaktper­son 2 jemand, der genügend Abstand eingehalte­n hat, keinen direkten Körperkont­akt hatte und nicht lange mit dem positiv Getesteten gesprochen hat. Solchen Personen wird ein Test empfohlen.

Wer allerdings als Kontaktper­son 1 eingestuft ist, der muss einen Test machen und überdies in Quarantäne. „Die meisten hatten im Freundeskr­eis Kontakt zu einer infizierte­n Person. Oder in der Arbeit“, sagt Hermann S., der an diesem Vormittag in seinem Flecktarn an seinem Schreibtis­ch sitzt. Dass Soldaten bei der Kontaktnac­hverfolgun­g helfen, ist mittlerwei­le in vielen Ämtern Usus. Ohne deren Unterstütz­ung wären die Aufgaben vielerorts auch gar nicht mehr zu schaffen.

Die Reaktionen der Menschen, mit denen der Contact-Tracer jeden Tag telefonier­t, sind höchst unterschie­dlich. Die einen, erzählt er, nehmen die Info, dass sie sich angesteckt haben könnten, ziemlich gefasst hin, andere sind völlig aufgelöst – und einige fangen an, zu diskutiere­n. Weil Corona ihrer Ansicht nach nur ein Hirngespin­st ist.

Solche Fälle landen bei Dr. UtaMaria Kastner, der Leiterin des Gesundheit­samtes. „Ich kann da nicht

die Contenance bewahren. Manchmal muss ich schon deutlich werden“, sagt Kastner, blonde Haare, roséfarben­er Blazer, der Schal im selben Ton. Kastner steht im Flur vor ihrem Büro im ersten Stock, streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht und geht ein paar Schritte, während sie über die Diskussion­en mit Kontaktper­sonen spricht.

Einige würden nicht einsehen, dass sie für zwei Wochen in Quarantäne müssten, wenn der Test negativ war, sagt sie. „Aber die Erkrankung kann ja noch später ausbrechen. Und falls das der Fall ist, sollten sie keinen Kontakt zu anderen haben.“Manche würden dann anfangen, zu verhandeln. Ein bisschen wie auf dem Markt sei das, meint Kastner. „Sie sagen dann zum Beispiel plötzlich, dass der Kontakt zu dem Infizierte­n doch nicht so eng war, wie sie es zuvor am Telefon dem Contact-Tracer geschilder­t haben“, sagt

Kastner und schüttelt den Kopf. Man merkt ihr an, dass es auch für sie anstrengen­de Zeiten sind.

Wie anstrengen­d die Zeiten sind, das weiß auch Bayerns Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml. „Die steigende Zahl der Infizierte­n und die damit verbundene hohe Zahl an Kontaktper­sonen stellt die Gesundheit­sämter vor sehr große Herausford­erungen“, sagt sie gegenüber unserer Redaktion. Welche Auswirkung­en das hat, also, in wie vielen Fällen eine Kontaktnac­hverfolgun­g überhaupt noch möglich ist, das könne man allerdings nicht sagen. Genaue Daten lägen dem bayerische­n Gesundheit­sministeri­um nicht vor, heißt es. „Aufgrund der immensen Arbeitsbel­astung der Ämter sehen wir von einer detaillier­ten Anfrage ab, um die Ressourcen für die Kontaktnac­hverfolgun­g nicht weiter zu belasten“, teilt Huml mit. Die erhebliche personelle Verimmer stärkung – durch Unterstütz­ungskräfte weiterer Ressorts, aber teilweise auch durch die Bundeswehr oder Polizeikrä­fte – solle aber sicherstel­len, dass die Kontaktper­sonennachv­erfolgung auch weiterhin durchgefüh­rt werden kann.

Kommt das Gesundheit­samt in Dillingen mit der Nachverfol­gung noch hinterher? „Meist schaffen wir es noch, alle zu erreichen“, sagt Gesundheit­samtschefi­n Kastner. Sie macht aber auch deutlich: „Wir sind bei der Kontaktnac­hverfolgun­g jetzt am absoluten Limit.“

Wenn also die Zahlen weiter steigen – und davon müsse man derzeit ausgehen – dann gehe es nicht mehr. Innerhalb von sieben Tagen habe es im Landkreis Dillingen zuletzt 179 Neuinfekti­onen gegeben. „Das besorgt mich“, fährt Kastner fort und tritt aus dem Flur, wo sich Büro an Büro reiht, ins Treppenhau­s. Die Zahlen würden von Tag zu Tag schwanken, manchmal seien es zehn, manchmal mehr als 30 neue Fälle – und an jedem Fall hängen viele Kontakte, manchmal ist es nur eine Handvoll, manchmal aber sind es bis zu 100 Personen, die angerufen werden müssen.

Insgesamt gibt es in der Dillinger Behörde 19 Mitarbeite­r, die sich um die Kontaktver­folgung kümmern – inklusive Bundeswehr­soldaten und Ehrenamtli­che. In den kommenden Tagen soll die Mannschaft auf 25 Personen erhöht werden, auch die Polizei wird mithelfen, damit die Einzelfall­nachverfol­gung weiterhin funktionie­rt.

Inzwischen gibt es allerdings eini

Experten, die eine solche Einzelfall­verfolgung angesichts der Überlastun­g vieler Gesundheit­sämter für nicht mehr zielführen­d halten. Etwa der SPD-Gesundheit­sexperte und Epidemiolo­ge Karl Lauterbach.

Es müsse stattdesse­n eine Cluster-Verfolgung geben, sagt Lauterbach im Gespräch mit unserer Redaktion. Seiner Ansicht nach müsste die Sache so laufen: Wenn ein neuer Corona-Fall auftaucht, wird systematis­ch abgefragt, ob die Person in den fünf Tagen vor der Ansteckung zu einem bestimmten Zeitpunkt eng mit vielen anderen Menschen zusammen war, zum Beispiel in der Schule, bei einer Chorprobe, einer Konferenz oder einer Familienfe­ier. Man jage dann nicht allen Einzelkont­akten der Person nach, sondern kontaktier­e gezielt nur diejenigen, die an den Clustern beteiligt waren, also etwa Mitschüler oder Chormitgli­eder. Die Clustermit­glieder würden dann für zehn Tage in Quarantäne gebeten. „Die Ämter würden dadurch entlastet werden, das System muss jetzt, wo wir im Wellenbrec­her-Shutdown sind, umgestellt werden.“

Die Verbandsch­efin der Ärzte im Öffentlich­en Gesundheit­sdienst, Ute Teichert, sieht das ganz ähnlich. Auf die Frage, ob man sich bei der Kontaktnac­hverfolgun­g von der Verfolgung jedes einzelnen Falls verabschie­den sollte, um lieber lokalen Häufungen nachzugehe­n und so die großen Infektions­ketten zu brechen, sagt Teichert vor kurzem in den ARD-Tagestheme­n: „Tatsächlic­h wäre es gut, wenn man vorwiegend auf die Cluster gucken würde. Das würde aber bedeuten,

Die Bundeswehr hilft in den Gesundheit­sämtern aus

Braucht es einen Strategiew­echsel?

dass man insgesamt einen Strategiew­echsel in der Gesellscha­ft bräuchte.“Und diesen Strategiew­echsel müssten die Menschen mittragen. Denn im Endeffekt bedeute das, dass man sich in Quarantäne begeben müsse, bloß weil man bei einem Cluster dabei war – ohne dass man positiv getestet wurde oder Symptome habe. Wenn man diesen Weg einschlage­n wolle, dann müssten dafür auch rechtliche Grundlagen geschaffen werden, fährt Teichert fort.

Zurück am Dillinger Gesundheit­samt. Oder besser: der früheren Außenstell­e des Landratsam­tes, die für die Kontaktnac­hverfolgun­g wieder aktiviert wurde. Gesundheit­samtschefi­n Kastner war mit ihren Leuten Anfang des Jahres umgezogen. Dann kam die erste Welle. „Da saßen wir noch auf nicht ausgepackt­en Kisten“, sagt Kastner. Nun ist sie also wieder in dem alten, gelben Gebäude mitten in der Dillinger Altstadt, in das in diesen Zeiten pro Tag etwa 100 Menschen kommen, um sich testen zu lassen. Kastner geht die Treppen hinunter, ins Erdgeschos­s, wo sich das Testzentru­m befindet, in dem auch mehrere niedergela­ssene Ärzte mithelfen – trotz ihrer anderen Belastunge­n.

Auf einer Bank im Eingangsbe­reich der Teststatio­n sitzt eine Frau mit ihrem Sohn. „Der Kinderarzt hat uns abgewiesen, deswegen sind wir jetzt hier“, sagt sie und atmet tief durch. „Fragen Sie nicht, das ist alles unglaublic­h“, fährt sie fort. Die Familie hat eine Landwirtsc­haft, der Bub wollte bei einem Lastwagenf­ahrer mitfahren – später stellte sich heraus, dass der Mann mit Sars-CoV-2 infiziert war. Die Sorge der Frau, dass der Lkw-Fahrer ihren Sohn angesteckt haben könnte, ist groß. Der indes wirkt angesichts der nervenaufr­eibenden Situation noch ganz gelassen. „Mir geht es ganz gut, ich habe nur ein bisschen Schnupfen“, murmelt der Bub hinter seinem Mundschutz.

Sollte er infiziert sein, geht im Gesundheit­samt die Suche nach den Kontaktper­sonen des Buben los. Nach Kindern, mit denen er gespielt hat, nach Verwandten, die er getroffen hat. Diese Detektivar­beit wird in einem nüchternen Büro beginnen.

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Fotos: Marcus Merk Die Bundeswehr hilft mittlerwei­le in vielen Gesundheit­sämtern aus. Hermann S. unterstütz­t die Behörde in Dillingen bei der Kontaktnac­hverfolgun­g. Er sagt: Manche sind ziemlich gelassen, wenn sie erfahren, dass sie Kontakt zu einem Infizierte­n hatten. Andere hingegen sind völlig aufgelöst.
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Birgit Rieß teilt den Menschen mit, dass ihr Test positiv war und fragt, mit welchen Personen sie Kontakt hatten.
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Im Dillinger Testzentru­m werden Abstriche genommen. Ist der Test positiv, beginnt die Suche nach den Menschen, die Kontakt zum Infizierte­n hatten.
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„Wir sind am Limit“, sagt Dr. Uta‰Maria Kastner, Leiterin des Dillinger Gesund‰ heitsamtes.

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