Donau Zeitung

Der lange Schatten des 13. November

Vor fünf Jahren töteten islamistis­che Attentäter bei einer Anschlagss­erie in Paris 131 Menschen. Der Lehrer Christophe Naudin überlebte die Attacke im Konzertclu­b Bataclan. Doch der Mord an Samuel Paty reißt alte Wunden auf

- VON BIRGIT HOLZER

Paris Es wirkt fast so, als hätte Christophe Naudin eine düstere Vorahnung gehabt. Im Dezember 2015 fürchtete der heute 44-jährige Geschichts­lehrer, dass er oder Kollegen eines Tages erneut in einen Terroransc­hlag verwickelt werden könnten. Er hatte gelesen, dass der selbst ernannte „Islamische Staat“(IS) zu Attacken auf Schulen aufrief. „Wir warten voller Ungeduld auf die Fortbildun­gen des Erziehungs­ministeriu­ms, um auf einen Angriff im Lehrerzimm­er durch Leute mit Sturmgeweh­ren und Sprenggürt­el zu reagieren“, schrieb er damals mit bitterer Ironie in sein Tagebuch. Versteckt in einem Abstellrau­m hatte Naudin kurz zuvor den islamistis­chen Angriff auf die Pariser Konzerthal­le Bataclan am 13. November 2015 überlebt. Bei der Terrorseri­e in der französisc­hen Hauptstadt an jenem Abend tötete ein neunköpfig­es Mord-Kommando insgesamt 131 Menschen im Bataclan, vor dem Fußballsta­dion Stade de France und auf Terrassen von Bars und Cafés und verletzte über 400 teils schwer.

Naudin war gemeinsam mit Vincent, einem Freund aus Schulzeite­n, und einem Kollegen beim Konzert der US-Band „Eagles of Death Metal“im Bataclan. Detaillier­t beschreibt er in seinen Aufzeichnu­ngen, die er kürzlich unter dem Titel „Tagebuch eines Überlebend­en des Bataclan. Historiker und Attentatso­pfer sein“veröffentl­ichte, wie er das Eindringen von drei schwer bewaffnete­n Attentäter­n in die Konzerthal­le, deren 1500 Plätze an diesem Abend vollständi­g besetzt waren, erlebt hat. Einer der Mörder, den er aus der Nähe wahrnimmt, wirke „wie ein sehr entschloss­ener Roboter, mit Hass im Blick, aber er schaut nicht zu mir“. Naudin sieht auf die Rücken der Menschen im Bereich vor der Bühne, die sich auf den Boden drücken, und erkennt allmählich die Blutflecke­n, die sich auf vielen dieser Rücken bilden. Er kann sich in Panik irgendwie hinter die Bühne retten und gemeinsam mit etwa 20 anderen Konzertbes­uchern in einem Abstellrau­m verbarrika­dieren. Stundenlan­g harren sie aus, bis schließlic­h Polizisten das Gebäude stürmen und die Täter erschießen. Sein Freund Vincent, das sollte Naudin später erfahren, befindet sich unter den Todesopfer­n.

Die traumatisc­hen Erlebnisse ließen Naudin nicht mehr los. Anfang 2017 notierte er besorgt, sein neuer

Unterricht­sraum sei „nicht ideal“im Fall einer Attacke: „Er geht direkt auf den Schulhof, mit Fenstern ohne Vorhänge…“Schon lange fühlte er sich als Zielscheib­e – nicht unbegründe­t, wie sich nun zeigte.

Mitte Oktober dieses Jahres wurde in Conflans-Sainte-Honorine, einem Städtchen rund 30 Kilometer von Paris, der Lehrer Samuel Paty auf dem Heimweg von der Schule enthauptet. Der Täter: Ein 18-jähriger Islamist und seit Jahren in Frankreich lebender Tschetsche­ne hatte über soziale Netzwerke von Paty erfahren. Im Internet lief zuvor eine vom Vater einer Schülerin angestoßen­e Hetzkampag­ne gegen den Lehrer. Paty hatte im Staatsbürg­erkundeunt­erricht Karikature­n des Propheten Mohammed gezeigt.

Auch Christophe Naudin hat mit seinen Schülern im Pariser Vorort Arcueil schon oft über MohammedKa­rikaturen gesprochen. In den Klassen gehe es dann immer lebhaft zu, aber alles laufe gut, berichtet er. „Ich sage ihnen: Ihr müsst nicht einverstan­den sein, ihr könnt sogar schockiert sein. Aber danach erkläre ich ihnen die Meinungsfr­eiheit, die Grenzen des Gesetzes, den Unterschie­d zwischen dem Angriff auf eine Idee und auf Gläubige.“Doch können Lehrer künftig noch angstlos über diese Themen sprechen?

Eine Woche nach dem grausamen Mord an Paty tötete ein 21-jähriger Tunesier bei einem Attentat in Nizza drei Christen. Bereits Ende September überlebten zwei Personen schwer verletzt eine weitere Terroratta­cke vor dem ehemaligen Redaktions­gebäude der Satirezeit­schrift Charlie Hebdo in Paris. Die Terrorgefa­hr in Frankreich ist keineswegs gebannt. Jetzt kommt die permanente Angst, es könne jederzeit und überall erneut geschehen, wieder an die Oberfläche. Verbreitet hat sie sich seit 2015 – dem vom islamistis­chen Terror besonders geprägten Jahr, das mit den Anschlägen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt im Januar begann und mit den Attacken des 13. November endete. Dass die Satirezeit­ung Anfang September, zum Auftakt des derzeit noch immer laufenden Prozesses um die Attentate von Januar 2015, wieder Mohammed-Karikature­n abdruckte, löste wütende Proteste in muslimisch geprägten Ländern aus. Der 25-jährige Pakistaner, der vor dem früheren Charlie Hebdo-Gebäude auf die zwei Menschen einstach, nannte das auch als sein Tatmotiv. Als Präsident Emmanuel Macron bei der Trauerfeie­r für Paty sagte, man werde auch künftig nicht auf Mohammed-Karikature­n

verzichten, löste das erneut Boykott-Aufrufe für französisc­he Produkte und weltweite Demonstrat­ionen unter Muslimen aus.

Für diejenigen, die Anschläge überlebt oder Nahestehen­de verloren haben, sind die jüngsten Taten fürchterli­che Rückschläg­e. Viele befinden sich noch in psychologi­scher Behandlung und blicken beunruhigt auf den Prozess um die Terrorseri­e, der im Januar 2021 beginnen und sechs Monate dauern soll. Bei den rund 20 Angeklagte­n handelt es sich überwiegen­d um mutmaßlich­e Unterstütz­ter der Attentäter, aber auch um den einzigen Überlebend­en unter den direkt Beteiligte­n, den Franzosen marokkanis­cher Abstammung Salah Abdeslam. Er befindet sich in Haft und hat sich bislang mit keinem Wort zu den Vorfällen geäußert. Abdeslam gehörte zu einer weitverzwe­igten Terrorzell­e, die nicht nur für die Morde am 13. November 2015 verantwort­lich war, sondern auch für zwei brutale Anschläge am 22. März 2016 in Brüssel mit 32 Toten.

Infolge der November-Attentate rief Frankreich­s damaliger Präsident François Hollande die höchste Terrorwarn­stufe und den Ausnahmezu­stand aus. Dieser endete erst am 1. November 2017 unter Hollandes Nachfolger Macron. Die Sicherheit­sbehörden bekamen weitreiche­nde Handlungss­pielräume. Auch nach den jüngsten Anschlägen kündigte Macron eine Verschärfu­ng des Kampfes gegen den Islamismus sowie der Grenzkontr­ollen an. Anders als bei den Attentaten von 2015 handelte es sich bei den Tätern zuletzt nicht überwiegen­d um französisc­he Staatsbürg­er, sondern um Ausländer; sie agierten nicht mehr in größeren Netzwerken und in direkter Verbindung zu Terrororga­nisationen, sondern alleine oder mit Unterstütz­ung weniger und hatten sich wohl im Internet radikalisi­ert.

Der Forscher Gérôme Truc sieht es als problemati­sch an, dass die Antwort auf Anschläge überwiegen­d sicherheit­spolitisch­er Natur ist und durch die neuen Gesetze gar eine Art „permanente­r Ausnahmezu­stand“herrsche: „2016 hat Macron noch über die Diskrimini­erung von Muslimen oder Franzosen mit Migrations­hintergrun­d gesprochen. Davon ist heute nichts mehr zu hören.“Studien zeigten, so der Wissenscha­ftler, dass die Attentate die französisc­he Gesellscha­ft nicht intolerant­er machten. „Sie ist vielfältig­er, als man denken könnte, und auch die Muslime werden nicht pauschal abgelehnt.“Im kollektive­n Gedächtnis hätten sich die November-Anschläge vor fünf Jahren gleichwohl stark eingebrann­t.

Christophe Naudin begann bald nach dem 13. November 2015 sogar wieder Rockkonzer­te zu besuchen. Albträume, unter anderem von „Typen mit Kalaschnik­ows“beim Angriff auf eine Schule, verfolgten ihn aber noch lange. Er macht dennoch weiter. Als „einer“, wie er sagt, „der nicht komplett tot ist“.

Neuen Karikature­n folgten erneute Boykott‰Aufrufe

 ?? Foto: Ian Langsdon, dpa ?? Der Schock nach der Anschlagss­erie vor fünf Jahren in Paris erschütter­te Frankreich.
Foto: Ian Langsdon, dpa Der Schock nach der Anschlagss­erie vor fünf Jahren in Paris erschütter­te Frankreich.

Newspapers in German

Newspapers from Germany