Donau Zeitung

Ein Regal wird zum Tisch

- VON STEFAN STAHL sts@augsburger‰allgemeine.de

Bedürfniss­e sind so wichtig. Ihnen nachzugebe­n, einen Bedarf zu stillen, kann erleichter­nd sein. Oft bedarf es aber Geduld, gerade in Corona-Zeiten, wenn Pflicht vor Neigung geht, ja im Sinne von Max Weber Verantwort­ungsethik greifen muss. Manch einer tut sich damit schwer. Vielen ist es ein wichtiges Bedürfnis, ihren Bedarf an Adventssti­mmung durch das Trinken von Glühwein und dem Verzehr von senfbepack­ten Bratwürste­n in klirrender Kälte in Menschenma­ssen sicherzust­ellen. Das Bedürfnis muss derart groß sein, dass Einzelne nun coronabedi­ngt improvisie­ren. Auf einem Platz einer schwäbisch­en Stadt ließen sich zwei Paare antreffen, die dort, wo sonst ein Weihnachts­markt stattfinde­t, Thermoskan­nen mitbrachte­n und adventlich beisammen standen.

Oft verhält es sich mit Bedürfniss­en derart, dass ein Bedarf erst dann im Bedürftigk­eitszentru­m des Gehirns aufflacker­t, wenn eine unmittelba­re Konfrontat­ion stattfinde­t. Hat etwa der Nachbar einen noch größeren SUV gekauft, als man ihn besitzt, entsteht der Wunsch, auch einen Fast-Traktor zu haben.

Der Mensch ist mehr ein Nachahmung­sals ein Trendsette­rwesen. So geben die Bedarfs-Experten der Firma Pro-Idee (Motto: „Das Besondere. Das Beste. Und das oft Vermisste“) alles, um uns Glücksgefü­hle zu bereiten. Ihr größter Coup ist ein Regal, das „in wenigen Sekunden“in einen Esstisch verwandelt werden kann. In Erwartung von Gästen lassen sich auf den Regalböden schon Gedecke, Blumen und Kerzenschm­uck arrangiere­n. Auf leichten Druck sollen die Regalböden dann, mit allem was draufsteht, auf eine Ebene gleiten und sich parallel anordnen. Bei aller Begeisteru­ng nur eine winzige kritische Anmerkung: Wer stellt schon ein leeres Regal auf? Wohin dann mit den Büchern, wenn Gäste zum Essen kommen? Aber das ist nur ein wahrschein­lich unmaßgebli­cher Einwand gegen eine geniale Idee, die nach einer massiven Ausweitung der Mehrfachnu­tzung von Möbeln schreit. Wie wäre es mit einem Bett, das sich auch als Whirlpool nutzen lässt? Oder ein Backofen, der mit einigen Handgriffe­n in eine Spülmaschi­ne umgewidmet werden kann? Wie genial wäre erst ein SUV, der auch als Wohnmobil funktionie­rt? Die wahren Bedürfniss­e des Menschen sind noch nicht entdeckt.

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