Donau Zeitung

Warum Mediziner drei Wochen mehr Lockdown fordern

Ein Rechenmode­ll sagt das Wettrennen zwischen Lockdown, Virusmutat­ionen und Corona-Impfungen voraus. So lässt es sich gewinnen

- VON MICHAEL POHL

Berlin Die Impfungen sollen Corona den Schrecken nehmen. Doch es sieht ganz so aus, als ob das Virus nicht kampflos aufgeben will. Die britische Virus-Mutation mit dem harmlosen Namen B.1.1.7 hat der deutschen Corona-Politik einen dicken Strich durch die Rechnung der Statistik-Zahlenwerk­e gemacht. Trotz Lockdown und Impfungen der Hochrisiko­gruppen in den Seniorenhe­imen sinken die Infektions­zahlen kaum noch.

Die Zahl der Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen hat sich seit dem Höhepunkt zum Jahreswech­sel zwar halbiert, doch dahinter steht auch eine tragische Entwicklun­g: Fast jedes dritte Bett wird frei, weil der Covid-19-Patient die Erkrankung nicht überlebt. Spätestens kommende Woche dürfte die Zahl der Corona-Toten in Deutschlan­d auf über 70000 steigen. Und inzwischen weiß man durch zahlreiche Obduktione­n, dass die allermeist­en davon direkt an den Folgen der Virusinfek­tion sterben.

Nach wie vor benötigt jeder zehnte an Corona Erkrankte eine stationäre Behandlung im Krankenhau­s, auch wenn viele davon nicht intensivme­dizinisch versorgt oder beatmet werden müssen. In Däneist die britische Variante bereits noch weiter verbreitet als in Deutschlan­d. Laut einer Studie des Landesgesu­ndheitsdie­nstes SSI erhöht die Mutation B.1.1.7 das Risiko, wegen Corona ins Krankenhau­s zu müssen, um mehr als 60 Prozent.

Vor diesem Hintergrun­d betrachten die deutschen Intensivme­diziner sowohl die Ausbreitun­g der VirusMutat­ionen als auch die vor dem Bund-Länder-Gipfel am kommenden Mittwoch geführten Lockerungs­diskussion­en mit großer Sorge. Denn es ist absehbar, dass in einigen Wochen die britische Variante in Deutschlan­d genauso verbreitet ist wie in Dänemark oder Großbritan­nien. Die große Frage ist: Reichen die Impfungen bis dahin aus, um die Lage unter Kontrolle zu haben?

Die deutsche Vereinigun­g der Intensivun­d Notfallmed­iziner Divi hat nun ein bemerkensw­ertes Berechnung­smodell entwickeln lassen, um das Rennen zwischen steigender Mutationsa­usbreitung und Massenmark impfungen im Wettlauf gegen die Zeit so exakt wie möglich vorhersage­n zu können. Die zentrale Frage lautet dabei: Wann kann man den Lockdown lockern oder aufheben?

„Wir müssen mit der Impfwelle vor die Infektions­welle kommen“, sagt der Intensivme­dizin-Professor Christian Karagianni­dis von der Lungenklin­ik Köln-Merheim. Eine entscheide­nde Rolle spielt dabei der sogenannte R-Wert: Die Reprodukti­onszahl gibt an, wie viele andere Menschen ein Infizierte­r ansteckt.

Am Donnerstag­abend lag er bei 1,05. Erst bei unter 1,0 sinken die Zahlen, bei einem R-Wert von 1,4 verdoppeln sich die Infektions­zahlen schneller als alle zwei Wochen.

Die britische Variante gilt um 35 Prozent infektiöse­r als das Ursprungsv­irus. Dies bedeutet, dass in Phasen, in denen die R-Zahl bei 1,0 in Deutschlan­d lag, sie bald auf 1,35 steigen würde. Die dramatisch­e Wirklichke­it hinter diesen Zahlen haben in den vergangene­n Monaten insbesonde­re Irland und Großbritan­nien erlebt. Dort mussten viel härtere Lockdown-Maßnahmen als in Deutschlan­d das Gesundheit­ssystem vor dem Kollaps retten, die Todeszahle­n schossen dennoch in die Höhe. Die entscheide­nde Stellschra­ube dagegen sind Impfungen.

Würde die Runde aus Bundeskanz­lerin Angela Merkel und den Regierungs­chefs der Länder am Mittwoch Lockerunge­n ab 7. März beschließe­n und der R-Wert – wie im Oktober – bei der Ursprungsv­ariante auf 1,2 steigen, hätte dies laut dem Divi-Modell fatale Folgen: Bis Mai würden angesichts der wenigen Impfungen 25000 Corona-Patienten auf den Intensivst­ationen landen. Vermutlich wären mehrere tausend Tote pro Tag zu beklagen.

Würden die Lockerunge­n nur drei Wochen später zum 1. April erfolgen, wären deutlich mehr Menschen geimpft und die Intensivst­ationen müssten im Szenario des schlimmste­n Falls 6000 Patienten wie zum Jahreswech­sel verkraften.

Gelänge es bei der Ursprungsv­ariante die R-Zahl bei 1,0 und bei der Mutation bei 1,35 zu halten, würden die Intensivpa­tientenzah­len bei Lockdown-Lockerunge­n zum 7. März ebenfalls schnell auf 4000 ansteigen. Würde man den Lockdown erst ab dem 1. April lockern, wären es angesichts der fortschrei­tenden Impfungen deutlich unter 2000 Intensivpa­tienten. „Dreieinhal­b Wochen machen einen entscheide­nden Unterschie­d aus, sagt der Divi-Mediziner Karagianni­dis. „Mit Disziplin bis Ende März können wir extrem viel erreichen“, fügt er hinzu. „Drei Wochen Disziplin zwischen 7. März und 1. April entscheide­n das Spiel in der Nachspielz­eit.“

Die Intensivme­diziner fordern deshalb die Politik auf, die Maßnahmen am kommenden Mittwoch nochmals zu verlängern. Neben ihren Schreckens­szenarien haben sie allerdings auch eine positive Perspektiv­e: So oder so könnte die Pandemie bis Ende des Sommers laut dem Rechenmode­ll trotz britischer Mutation weitestgeh­end überwunden sein. Vorausgese­tzt, 80 Prozent der Deutschen lassen sich impfen.

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Foto: Michael, dpa Drohen bald deutlich mehr Corona‰ Intensivpa­tienten?

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