Mayday
Wahl Sie hat hoch gepokert und viel verloren. Großbritanniens Premierministerin Theresa May büßt mit ihren Tories die absolute Mehrheit ein. Nun herrscht politisches Chaos. Bekommt sie eine Regierung zustande? Die Heckenschützen in ihrer Partei stehen jed
London Vielleicht wirkt die Situation so absurd, weil es kurz nach vier am Morgen ist und das Königreich wieder mal nach einer kurzen Nacht übermüdet von einem politischen Erdbeben geweckt wird. Vielleicht ist es auch einfach dem skurrilen Bild geschuldet: Als Premierministerin Theresa May in ihrem Wahlkreis Maidenhead mit ihren Kontrahenten das Ergebnis abwartet, steht sie in einer Reihe mit Elmo, dem Kandidaten im roten Plüschkostüm, und Lord Buckethead, „dem intergalaktischen Weltraum-Fürsten“, der mit seinem schwarzen Gewand und dem Kübel über dem Kopf aussieht, als sei er einer Karikatur von Star Wars entsprungen. Spaßkandidaten nennt man das. Bringen schöne Bilder, lockern das Ganze etwas auf, na ja.
May jedenfalls hat in diesem Moment keinen Blick für ihre Mitbewerber, geschweige denn Sinn für britischen Humor. Die Konservativen sind bei der Parlamentswahl stärkste Partei geworden, haben in absoluten Stimmen sogar zugelegt. Und doch haben sie ihre absolute Mehrheit verloren. Es ist die Niederlage von Theresa May. Auf gut Deutsch: Sie hat sich verzockt.
In der Nacht ist sie noch schnell zur Siegerin in ihrem Wahlkreis Maidenhead, einer Gegend im Speckgürtel von London, gekürt worden. Nun betont sie in ihrer kurzen, starren Rede, das Land brauche eine Phase der Stabilität. Ihre Stimme zittert, sie lächelt gequält, und weder Lord Buckethead noch Elmo noch dem Rest der Briten dürfte der Irrwitz entgehen, der in ihren Worten mitschwingt. Denn de facto herrscht in Westminster Chaos.
Es gibt ein Patt im Parlament. Die Gesellschaft ist zumindest so gespalten wie vor einem Jahr nach dem Brexit-Votum. Die Wahl hat diese Gräben weiter vertieft. May rief im April entgegen früherer Beteuerungen ohne Not Neuwahlen aus. In Umfragen lagen die Konservativen mit mehr als 20 Prozentpunkten Vorsprung fast uneinholbar vor der Labour-Partei unter Oppositionschef Jeremy Corbyn. Die Regierungschefin wollte sich für die anstehenden Brexit-Verhandlungen mit Brüssel ein eindeutiges Mandat verschaffen und die Mehrheit im Parlament ausbauen. Gestern, so war der Plan, wollte sie vors Volk treten und einen historischen Sieg feiern. „Sie ging ein hohes Risiko ein und hat sich verzockt“, lautet stattdessen der Tenor auf der Insel.
Trotz Rücktrittsforderungen von allen Seiten gibt sich die 60-Jährige an der Seite ihres Mannes Philip standhaft. Erst holt sie im Buckingham-Palast bei Königin Elizabeth II. die formelle Erlaubnis für die Regierungsbildung ein, dann tritt sie vor die Presse. Wer allerdings erwartet hat, dass sie mit einer beschwichtigenden Ansprache an das Volk reagieren würde, sieht sich getäuscht. Sie wolle mit Unterstützung der nordirisch-unionistischen DUP, der Democratic Unionist Party, eine Regierung formen, kündigt sie an. Lediglich die Konservativen und die DUP hätten die Fähigkeit und den Auftrag, dem Land die dringend notwendige Stabilität zu verschaffen. Einer der anwesenden Fotografen verdreht die Augen. Irgendwie klingt das wie ihre Botschaft der „starken und stabilen Führung“, die sie in den vergangenen Wochen nicht müde wurde zu betonen. Kein Wort zur Hängepartie, in der die Tories nun stecken. Kein Wort zur Versöhnung an das zerrissene Land. Kein Wort der Selbstkritik. Als „Königin des Verdrängens“verspottet sie die Zeitung Evening Standard, weil sie schlichtweg „das Desaster ignoriert“.
Statt May jubelt nun LabourChef Jeremy Corbyn. Ausgerechnet der 68-jährige Alt-Linke, der innerhalb der eigenen Partei hoch umstritten ist, hat es geschafft, die Jugend zu mobilisieren. Corbyn, der Mann mit dem weißen Vollbart und den unumstößlichen Prinzipien, wirkte offensichtlich authentischer und bot den Wählern eine Kampa- gne, die vor allem auf soziale Gerechtigkeit fokussierte. Als lebenslanger EU-Skeptiker vermied er das Thema Brexit, so gut es ging. Und doch könnte der Erfolg der LabourPartei, die sich für einen Verbleib im gemeinsamen Binnenmarkt ausgesprochen hat, dafür sorgen, dass Theresa May sich mit ihrer harten Brexit-Linie nicht durchsetzt.
„Das Ergebnis zeigt, dass die Menschen eine andere Vorstellung von einem Großbritannien außerhalb der EU haben als May“, sagt Simon Hix, Politikwissenschaftler an der London School of Economics. Er erwartet, dass sich nun auch die moderaten Kräfte innerhalb der konservativen Partei wieder melden. Jene EU-Anhänger, die nach dem Brexit-Votum von den EUSkeptikern und Theresa May zum Schweigen gebracht wurden, „werden nun nach vorne treten und eine Umkehr des Brexit-Kurses for- dern“, prophezeit Hix. Ein Machtkampf innerhalb der Tories?
Schon jetzt laufen Wetten, wie lange sich May angesichts der geschwächten Position in ihrem Amt halten kann. Erneute Wahlen innerhalb der nächsten zwei Jahre, „vielleicht sogar schon 2018“, gelten als wahrscheinlich. Andere meinen, sie überstehe nicht einmal dieses Wochenende. Nur: Zum jetzigen Zeitpunkt würde sich ein Wechsel in der Downing Street schwierig gestalten angesichts der knapp bemessenen Zeit, die für die Scheidungsgespräche mit Brüssel bleiben, glaubt der renommierte Polit-Experte Tony Travers. Am 19. Juni sollen die Verhandlungen mit den 27 übrigen Mitgliedstaaten eigentlich beginnen. Das Problem ist: „Ihre Position ist nun sehr viel schwächer und die Partner wissen das“, sagt Travers.
Theresa Mays Kampagne, die komplett auf sie zugeschnitten war, geht derweil als „schlechteste in die Geschichte der Tories“ein, wie es gestern unaufhörlich auf den Fluren von Westminster hieß. Ungelenk, zaudernd, verkrampft – May präsentierte sich als miserable Wahlkämpferin mit einem Programm, von dem sie einige Teile nach einem öffentlichen Sturm der Entrüstung wieder zurücknahm.
Am Ende hinterlässt diese Nacht etliche Verlierer, selbst unter den politischen Schwergewichten. Nick Clegg, der ehemalige Vize-Premier von den europafreundlichen Liberaldemokraten, verliert seinen Sitz ebenso wie der ehemalige Ministerpräsident Schottlands, Alex Salmond. Der verkörperte einst wie kein anderer den Willen zur Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils. Nun straften die Wähler den Ex-Chef der Schottischen Nationalpartei (SNP) ab. Die Partei ist künftig mit 21 Sitzen weniger im Unterhaus vertreten. Regierungschefin Nicola Sturgeon schiebt das enttäuschende Abschneiden „zweifellos“auch auf die Pläne, ein zweites Referendum über die Eigenständigkeit
Ihre Stimme zittert, sie lächelt gequält Diese Nacht hinterlässt noch ganz andere Verlierer
Schottlands abhalten zu wollen. Laut Umfragen lehnt ein Großteil der Schotten sowohl die Abspaltung vom Königreich als auch eine erneute Abstimmung darüber ab.
Theresa May hatte den Plan, mit ihrer harten Brexit-Linie die rund vier Millionen Ukip-Stimmen zu übernehmen, die die Rechtspopulisten bei der Abstimmung vor zwei Jahren erhalten haben. Die Rechnung ging nicht auf. Statt zu den Konservativen überzulaufen, stimmte der Großteil für Labour. Und Ukip? Ist Opfer des eigenen Erfolgs. Die EU-feindliche Partei hatte mit dem Ansetzen eines Referendums und dem Brexit-Votum ihr wichtigstes Ziel erreicht. Parteichef Paul Nuttall trat gestern zurück. Die Rechtspopulisten konnten keinen einzigen Sitz gewinnen.
Elmo, der Kandidat im Plüschkostüm, ist in Maidenhead übrigens nicht als seriöse Alternative betrachtet worden. Er erhielt nur drei Stimmen. Lord Buckethead brachte es dagegen auf 249 und freute sich so überschwänglich, wie das mit einem Eimer auf dem Kopf nur möglich sein kann – anders als seine alte und neue Abgeordnete im Parlament: Theresa May.