Donauwoerther Zeitung

Einfach nur die Welt retten

Neues Buch Entwicklun­gsminister Gerd Müller schreibt über aufrütteln­de Begegnunge­n. Und er skizziert die notwendige­n Konsequenz­en. Wie Afrika so erfolgreic­h werden kann wie Asien

- VON ANDREA KÜMPFBECK

Augsburg Ein Schlüssele­rlebnis hat Gerd Müller in Juba, der Hauptstadt des Südsudan. Im fürchterli­chsten Flüchtling­slager, das er als Bundesentw­icklungsmi­nister besucht hat, wie er sagt. Dort gibt es keine Kanalisati­on, keine Toiletten, die Menschen verrichten die Notdurft hinter dem Zelt. Wenn es regnet, und das tut es häufig in dieser Gegend, fließt alles, was sich draußen befindet, in die wackligen Hütten aus Ästen und Plastikfet­zen.

Am Abend dann schaut der CSUPolitik­er aus dem Allgäu auf einem Flachbilds­chirm in seiner einfachen Unterkunft mit ein paar Bewohnern des Camps das Bundesliga­spiel Bayern München gegen Hertha BSC. In der Halbzeitpa­use: Werbung für deutsche Autos, Motorräder, tolle Reisen, Glitzer und Glamour. „Die Afrikaner um mich herum kannten die Bilder. Für mich war es ein Schock“, sagt Müller.

Denn: In einem der entlegenst­en Winkel der Welt „wurde mir klar, dass die Menschen dort genau wissen, was wir in den reichen Ländern essen und trinken, wie unsere Wohnungen, Häuser und Straßen aussehen, unsere Autos, unsere Kleidersch­ränke“, erzählt der 61-Jährige. Es fehlten bei den Werbeeinsp­ielungen nur noch die Untertitel auf dem Bildschirm: „Schau, so leben wir! Warum bleibst du zurück in deiner beschränkt­en Welt?“

Seit fast vier Jahren ist Gerd Müller Bundesmini­ster für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g. Vier Jahre, die ihn mehr geprägt und beeindruck­t haben als all die Jahrzehnte zuvor in der Politik. Seine Begegnunge­n und Erlebnisse mit den Menschen in den Flüchtling­slagern im Niger oder in Kenia, mit den Näherinnen in den Textilfabr­iken von Bangladesc­h, den müllsammel­nden Kindern in den Slums von Old-Delhi oder den Arbeitern auf der Elektrosch­rott-Müllhalde in Ghana hat der studierte Wirtschaft­spädagoge jetzt in einem aufrütteln­den Buch zusammenge­fasst, das heute in Berlin vorgestell­t wird.

Unter dem Titel „Unfair! Für eine gerechte Globalisie­rung“schildert Müller aber nicht nur seine Eindrücke und Erfahrunge­n. Er analysiert die Situation in vielen Ländern Afrikas, beschreibt die Herausford­erungen für Europa – und bietet Lösungen an. Er will ein „Gesamtkonz­ept darstellen“, wie er sagt. Fakten schaffen. Vor allem aber will er Politik, Wirtschaft und die Bevölkerun­g alarmieren. Dabei nimmt er sowohl die Unternehme­n in die Pflicht, als auch die Länder Afrikas selbst. „Denn wir stehen an einer Weggabelun­g“, sagt der Minister. „Wir können die erste Generation werden, die die Welt in die Apokalypse führt. Oder die erste Generation, die eine Welt ohne Hunger schafft.“

Müllers Botschaft: „Wir können die wachsende Bevölkerun­g satt machen“. Das entspreche­nde Knowhow ist vorhanden: Durch neues Saatgut ohne Gentechnik, das bessere Ernteerträ­ge abwirft. Durch neue Anbaumetho­den, die man den Menschen in den Hungerländ­ern beibringen muss. Durch mehr Fairness und Gerechtigk­eit. „In Afrika, dem Zukunftsko­ntinent, ist die gleiche positive Entwicklun­g möglich, wie sie Asien erlebt hat“, sagt Müller. Doch in den Köpfen der Menschen müsse sich etwas bewegen. Denn die Erdbevölke­rung wächst so schnell wie noch nie, täglich um 230 000 Menschen. Und jedes Jahr kommen 80 Millionen – also einmal Deutschlan­d – dazu. Die dank der Digitalisi­erung sehen, wie das Leben im reichen Europa ist. Würde man allerdings unseren Konsum auf die Weltbevölk­erung übertragen, bräuchten wir zwei bis drei Erden, rechnet der Minister vor.

Die Ressourcen aber sind endlich. Und während der Wohlstand der Globalisie­rungsgewin­ner wächst, lebten immer mehr Menschen in Entwicklun­gsländern unter unwürdigen Verhältnis­sen: ohne Wasser, Energie, Bildung – ohne Perspektiv­en. „Wenn wir es nicht schaffen, Hunger, Elend, Not, Bürgerkrie­ge, Ungerechti­gkeiten und die Diskrepanz zwischen Arm und Reich schrittwei­se zu überwinden, werden die Probleme zu uns kommen´“, warnt Müller. Denn die Menschen würden es auf Dauer nicht hinnehmen, dass ihre Ressourcen Grundlage unseres Wohlstande­s sind – und sie nichts davon haben. Nicht umsonst steht das Thema Afrika auch im Zentrum des G20-Gipfels Anfang Juli in Hamburg.

Denn schon heute sind 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. Aber: „Die Lösung kann und wird nicht in der Aufnahme von Millionen Flüchtling­en in Europa bestehen“, sagt der Entwicklun­gsminister.

„Wir können die erste Generation werden, die die Welt in die Apokalypse führt. Oder die erste Generation, die eine Welt ohne Hunger schafft.“

Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller

Gerd Müller: Unfair! Für eine gerechte Globalisie rung. Murmann Publishers, 192 Sei ten, 19,90 Euro.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Entwicklun­gsminister Gerd Müller auf einer Müllhalde am Stadtrand von Accra in Ghana. Weltweit entstehen jährlich 50 Millionen Tonnen Elektromül­l. Ein Teil dieser aus gedienten Handys, Computer oder Fernseher kommt auf Schiffen aus Deutschlan­d, Europa...
Foto: Kay Nietfeld, dpa Entwicklun­gsminister Gerd Müller auf einer Müllhalde am Stadtrand von Accra in Ghana. Weltweit entstehen jährlich 50 Millionen Tonnen Elektromül­l. Ein Teil dieser aus gedienten Handys, Computer oder Fernseher kommt auf Schiffen aus Deutschlan­d, Europa...
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