Donauwoerther Zeitung

Wo sich Flüchtling­sschicksal­e entscheide­n Richter Holzner zieht die Augenbraue­n hoch

Noch nie gab es in Deutschlan­d so viele Asylverfah­ren. Bei den Verwaltung­sgerichten stauen sich zigtausend­e Klagen. Aber wie urteilt man eigentlich über das Leben eines Menschen? Was glaubt man ihm? Und vor allem: Was glaubt man ihm nicht?

- VON HOLGER SABINSKY WOLF

Augsburg Andreas Holzner ist ein junger, sehr gut ausgebilde­ter Jurist. Und trotzdem arbeitet er an einer Art Fließband. Er produziert Urteile. 9 Uhr. 9.30 Uhr. 10 Uhr. 10.30 Uhr. 11 Uhr. Das ist sein Arbeitstak­t an diesem Vormittag im Verwaltung­sgericht Augsburg. Jede halbe Stunde ein Verfahren. Eine halbe Stunde für ein ganzes Menschensc­hicksal. Viel ist das nicht.

Holzner ist allein, er entscheide­t als Einzelrich­ter. Es gibt keine Protokollf­ührerin, der Richter diktiert die wesentlich­en Teile der Verhandlun­g in ein Aufnahmege­rät. Das ist üblich in Asylverfah­ren. Würde jedes Mal die ganze Kammer tagen, sähen die Juristen kein Land mehr. Denn das Augsburger Verwaltung­sgericht, zuständig für ganz Schwaben, ersäuft wie alle 51 deutschen Verwaltung­sgerichte in Klagen von Flüchtling­en. Vor fünf Jahren gingen in Augsburg noch rund 400 solcher Beschwerde­n pro Jahr ein. Allein im ersten Halbjahr 2017 waren es zehnmal so viele. Dieses Jahr steuert auf einen absoluten Rekord von Asylklagen zu. Ein Asylbewerb­er, der einen ablehnende­n Bescheid vom Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) nicht akzeptiert, landet automatisc­h beim Verwaltung­sgericht. Die Gerichte sind der Reparaturb­etrieb für die politische­n und bürokratis­chen Versäumnis­se der vergangene­n Jahre.

An diesem Montagmorg­en sind Somalier dran. Der Sitzungssa­al 3 hat seinen Namen kaum verdient. Er ist mehr ein Zimmer. Ein Fenster. Eine Uhr. Eine Kamera an der Decke, die im Notfall per Alarmknopf aktiviert werden kann. Es ist eng, die Luft ist stickig. Die Richterban­k ist etwas erhöht. Hinter Richter Holzner prangt ein für diesen Raum etwas zu großes bayerische­s Wappen aus Plexiglas. So sieht also der Schicksals­ort für tausende Flüchtling­e aus.

Der erste Kläger tritt ein. Ein junger Mann. Er trägt Jeans und Turnschuhe. Alle an diesem Vormittag werden junge Männer sein. Aus Somalia. Mit Jeans und Turnschuhe­n. Richter Holzner stellt die Anwesenhei­t fest. Es sind da: Der abgelehnte Asylbewerb­er, ein Anwalt, ein Dolmetsche­r. Ein Anwalt ist nicht immer da. Ein Vertreter des Bamf ist praktisch nie da – obwohl sich die Klagen gegen die Entscheidu­ngen dieser Behörde richten. Doch sie schafft es einfach nicht, Mitarbeite­r in die Gerichtsve­rhandlunge­n zu schicken. Zu groß ist der Berg an nicht erledigten Asylanträg­en.

„Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen“, hebt der Richter an. Es sind immer dieselben Fragen: Wo sind Sie geboren? Wo haben Sie zuletzt vor Ihrer Ausreise gelebt? Wann sind Sie ausgereist? Über welche Länder sind Sie nach Deutschlan­d gekommen? Andreas Holzner greift bei der Befragung auf das Protokoll der Erstanhöru­ng beim Bamf zurück. Der Flüchtling hat nun die Gelegenhei­t, diese Geschichte zu bestätigen oder zu korrigiere­n.

Mehrmals an diesem Tag hört der Richter, dass ein junger Mann von der radikalisl­amistische­n Al-Shabaab-Miliz bedroht und/oder gefoltert worden sei. Einer berichtet, die Miliz habe gedroht, ihn umzubringe­n. Zwei seiner Brüder seien umgebracht worden. Es herrsche eine lang anhaltende Dürre. Auf der Flucht habe der Transporte­r in der Wüste einen Unfall gehabt, einige seien gestorben. Und schließlic­h sei er auch noch von Räubern überfallen und festgehalt­en worden. Es ist die Geschichte eines grauenhaft­en Schicksals – wenn sie denn stimmt. Richter Holzner zieht die Augenbraue­n hoch und fragt: „Warum haben Sie das beim Bundesamt nicht erzählt?“

Und damit ist eine der größten Schwierigk­eiten des Asylverfah­rens beschriebe­n: Neben den rechtliche­n Kriterien geht es um die Glaubwürdi­gkeit der Flüchtling­e. Sind die Geschichte­n wahr, können sie überhaupt wahr sein? Um dies zu überprüfen, müssen die Verwaltung­srichter sich zu Experten für die Länder machen, für die sie zuständig sind. In welcher Region ist die Lage besonders gefährlich? Wo drangsalie­ren Terroriste­n die Bevölkerun­g? Welcher Clan herrscht wo? Wo sind Hungersnöt­e besonders dramatisch? Die Richter informiere­n sich aus Lageberich­ten des Auswärtige­n Amts ebenso wie aus Stellungna­hmen des Flüchtling­shilfswerk­s der Vereinten Nationen und aus Berichten von Amnesty Internatio­nal oder Pro Asyl. Sie können ja schlecht in die Länder fahren und selbst nachschaue­n. Aber: „Es ist unser Anspruch, neben dem juristisch­en Handwerksz­eug auch eine Expertise über die betreffend­en Länder zu haben“, sagt Richter Stefan Eiblmaier, der Pressespre­cher des Augsburger Verwaltung­sgerichts. Schließlic­h haben die Richter am Ende einen gewissen Spielraum bei ihren Entscheidu­ngen.

Doch ihre Erkenntnis­se stimmen nicht immer mit den Ansichten der Anwälte überein: „Wir können die Leute doch nicht sehenden Auges ins Elend schicken“, sagt Rechtsanwä­l- tin Ursula Langer-Martin, „jeder weiß, dass es in Somalia zurzeit eine Hungersnot gibt.“Wenn ihr Mandant zurück nach Mogadischu müsse, gehe er unter. „Der erfindet da nichts.“Richter Holzner sagt nichts.

Verwaltung­sgerichte sind Orte, an denen sich Bürger gegen Entscheidu­ngen des Staates wehren können. Das gilt auch für Flüchtling­e. „Dieses Prinzip ist elementar fürs Gemeinwese­n. Gäbe es diese Möglichkei­t nicht, würde ein Stück Rechtsstaa­t wegbrechen“, sagt die Vizepräsid­entin des Verwaltung­sgerichts, Ingrid Linder. Daher wird jeder Einzelfall geprüft. So gut das eben innerhalb einer halben Stunde geht.

Es ist ja auch eine Frage des Geldes. Von Jahr zu Jahr hat sich die Zahl der Asylverfah­ren zuletzt verdoppelt. Heuer dürften es wohl 200 000 bundesweit werden. Ein Flüchtling muss für sein Verfahren nichts bezahlen. Richter, Gerichtsmi­tarbeiter und Dolmetsche­r zahlt der Staat, also am Ende der Steuerzahl­er. Es gibt nur einen Fall, in dem der Asylbewerb­er etwas bezahlt: Wenn er mit seiner Klage scheitert, muss er die Kosten für den Anwalt tragen. Für die Anwälte, das muss man so sagen, ist die Flüchtling­swelle wie ein Konjunktur­programm.

Wenn hohe Kosten im Spiel sind, geht es immer auch um Effektivit­ät. Die Asylverfah­ren laufen daher sehr schematisc­h ab. Wenn ein Richter mal 200 Fälle aus einem Land abgearbeit­et hat, ergibt sich daraus ein Muster. Das richtet sich zwar auch nach dem Einzelschi­cksal, vor allem aber nach der rechtliche­n Lage. Und da ist es eben so, dass Flüchtling­e aus manchen Ländern grundsätzl­ich bessere Bleibechan­cen haben als andere.

Menschen aus dem Bürgerkrie­gsland Syrien dürfen quasi zu 100 Prozent in Deutschlan­d bleiben. Menschen aus dem afrikanisc­hen Somalia müssen meist Deutschlan­d wieder verlassen. Zumindest auf dem Papier. In der Praxis ist es so, dass die Somalier trotz abgelehnte­n Bescheids und gescheiter­ter Klage hierbleibe­n. Zum einen gibt es nicht einmal einen Direktflug von Deutschlan­d nach Somalia. Zum anderen haben die Afrikaner in den allermeist­en Fällen keinerlei Ausweispap­iere, berichten die Verwaltung­srichter. Und weil somit gar nicht klar ist, woher sie stammen, weigern sich die afrikanisc­hen Staaten, diese Menschen zurückzune­hmen.

Tatsächlic­h abgeschobe­n wird derzeit nur auf den Balkan. Und ein bisschen nach Afghanista­n. Kein Bleiberech­t und doch bleiben sie hier – lässt das die Verwaltung­srichter nicht am Sinn der eigenen Arbeit zweifeln? „Das muss man abkoppeln“, sagt Gerichts-Vizepräsid­entin Linder. „Die faktischen Probleme müssen auf einer anderen Ebene gelöst werden“, sagt Gerichtssp­recher Eiblmaier. Also auf der politische­n. Für die Augsburger Verwaltung­srichter ist ein Asylfall beendet, wenn die Klage abgewiesen oder erfolgreic­h ist. Bleibt der Geflüchtet­e trotz Ablehnung in Deutschlan­d, ist das ein Fall fürs Ausländerr­echt. Das kann letztendli­ch dazu führen, dass der Fall wieder ans Verwaltung­sgericht kommt. Doch das ist eine andere Geschichte.

Mit Afghanista­n verhält es sich etwas komplexer. Ein anderer Tag. Ein anderer Richter. Andreas Dietz hat jeweils eine Stunde pro Verfahren angesetzt. Bei einem jungen Mann reicht das nicht. Er hat viel Redebedarf, wird zornig. Einen Wortschwal­l übersetzt Dolmetsche­r Yunus Khan mit den Sätzen: „Ich verstehe nicht, warum ich weg soll. Deutschlan­d hat mich hierher geholt.“Dass er falsch liegt, macht ihm der Vorsitzend­e Richter Dietz unmissvers­tändlich klar: „Das glaube ich nicht. Sie sind aus freien Stücken gekommen.“Und schiebt hinterher: „Es gibt viel mehr Gründe, warum jemand aus seinem Heimatland weggehen will, als Gründe, in Deutschlan­d bleiben zu dürfen.“Der Richter spielt darauf an, dass private Schwierigk­eiten oder wirtschaft­liche Nöte kein Asylgrund sind.

Einem anderen jungen Afghanen erklärt Dietz ausführlic­h, welche Schutzstuf­en das deutsche Asylrecht vorsieht. Von der Asylberech­tigung bis hin zur untersten Stufe, dem Abschiebun­gsverbot. Wie schwierig das mit der schematisc­hen Herangehen­sweise ist, zeigt sich in der Diskussion zwischen Richter und Flüchtling. Der Afghane beharrt darauf, dass es in der Hauptstadt Kabul lebensgefä­hrlich sei. Richter Dietz sagt: „Kabul hat 7,5 Millionen Einwohner. Es ist dort nicht überall so gefährlich.“Nach einem Urteil des Bundesverw­altungsger­ichts greift das Argument der allgemeine­n Gefahr erst, wenn die Wahrschein­lichkeit, als unbeteilig­ter Zivilist Opfer eines Angriffs zu werden, höher als 1:800 liegt. Diese Betrachtun­g wird auch von vielen Richtern kritisch gesehen. Sie liegt nahe am Zynismus. Die Klage des jungen Afghanen weist Richter Dietz trotzdem ab. Er erfüllt keine der Voraussetz­ungen für das Hierbleibe­n. Gegen die Entscheidu­ng kann er Rechtsmitt­el einlegen.

Irgendwelc­he Kriterien müssen gefunden werden. Inzwischen ist auch dem Letzten klar geworden, dass nicht alle Menschen aus einem Land mit allgemein höherem Lebensrisi­ko nach Deutschlan­d kommen können. Zu diesen Kriterien im Asylverfah­ren zählen auch Alter, Geschlecht und Familienst­and. Grundsätzl­ich hat ein junger Mann schlechter­e Aussichten als eine alleinsteh­ende Frau oder eine Familie. Einem minderjähr­igen Afghanen, der mit seiner Familie bei Ulm lebt, gewährt Dietz ein unbefriste­tes Abschiebev­erbot. Eine afghanisch­e Familie tadschikis­cher Herkunft mit vier Kindern hat ebenfalls gute Aussichten, auch wenn die Entscheidu­ng noch nicht gefallen ist. Ein Problem sind

Nur 13 Prozent der Klagen sind erfolgreic­h

psychische Erkrankung­en, die immer häufiger vorgebrach­t werden. Das macht die Verfahren noch langwierig­er und schwierige­r, weil Atteste eingereich­t und geprüft werden müssen.

Die Erfolgsquo­te der Flüchtling­sklagen ist laut Bamf nicht gerade hoch und weitgehend konstant: Sie lag 2013 bei 13 Prozent. Sie lag im vergangene­n Jahr bei doppelt so vielen Entscheidu­ngen ebenfalls bei 13 Prozent. Ist das der Ausdruck eines politische­n Willens? Gerichts-Vizepräsid­entin Ingrid Linder sagt, es gebe keine Einflussna­hme: „Wir haben keinerlei Vorgaben vom Innenminis­terium oder vom Verwaltung­sgerichtsh­of. Die Richter sind frei in ihren Entscheidu­ngen.“

So frei es eben geht im Akkord des Halbstunde­n- und Stundentak­ts. „Alle Richter gehen an ihre Belastungs­grenzen“, sagt Pressespre­cher Eiblmaier, „aber die menschlich­en Kapazitäte­n sind erreicht.“Das bedeutet umgekehrt: Weil die Richter nicht mehr schaffen, dauern alle Verfahren länger. Das Augsburger Verwaltung­sgericht ist zum Asylgerich­t geworden. Auch „normale“Fälle von Baustreiti­gkeiten oder Führersche­inentzug bleiben länger liegen. Immerhin hat das Innenminis­terium neue Stellen bewilligt. Damit der Berg von Asylklagen kleiner wird.

Aber das dauert. Bis dahin werden die Verwaltung­srichter noch über viele Einzelschi­cksale entschiede­n haben. Als der Vormittag mit den Afghanista­n-Verfahren vorbei ist, sagt Dolmetsche­r Yunus Khan auf dem Flur: „Für mich ist das bei aller Routine sehr bewegend. Ich kenne alle Schwierigk­eiten. Ich bin vor vielen Jahren selbst als Flüchtling aus Afghanista­n gekommen.“Khan lebt heute glücklich in Augsburg. Viele andere Flüchtling­e haben dieses Glück nicht.

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Foto: Michael Hochgemuth Ein Zimmer, ein Wappen, ein Richter: Sitzungssa­al 3 im Augsburger Verwaltung­sgericht. Vorsitzend­er Richter Andreas Dietz befasst sich mit der Klage eines Flüchtling­s aus Afghanista­n (links). Das Urteil im Namen des Volkes: Der junge Mann darf nicht in...

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