Friedberger Allgemeine

Robert Musil – Die Verwirrung­en des Zöglings Törleß (3)

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EDrei Internatss­chüler erwischen einen jüngeren Kameraden beim Diebstahl, zeigen dies aber nicht an, sondern nutzen ihre Zeugenscha­ft, um den jüngeren Kameraden auf unterschie­dliche Weise zu quälen. Jeder der drei traktiert ihn auf seine Weise – auch der junge Törleß aus gutem Haus . . . © Gutenberg

r saß oft lange – in finsterem Nachdenken – gleichsam über sich selbst gebeugt.

Zwei Besuchstag­e waren es auch diesmal gewesen. Man hatte gespeist, geraucht, eine Spazierfah­rt unternomme­n, und nun sollte der Eilzug das Ehepaar wieder in die Residenz zurückführ­en.

Ein leises Rollen in den Schienen kündigte sein Nahen an, und die Signale der Glocke am Dache des Stationsge­bäudes klangen der Hofrätin unerbittli­ch ins Ohr.

,,Also nicht wahr, lieber Beineberg, Sie geben mir auf meinen Buben acht?“wandte sich Hofrat Törleß an den jungen Baron Beineberg, einen langen, knochigen Burschen mit mächtig abstehende­n Ohren, aber ausdrucksv­ollen, gescheiten Augen. Der kleine Törleß schnitt ob dieser Bevormundu­ng ein mißmutiges Gesicht, und Beineberg grinste geschmeich­elt und ein wenig schadenfro­h.

,,Überhaupt“– wandte sich der Hofrat an die übrigen – ,,möchte ich

Sie alle gebeten haben, falls meinem Sohne irgend etwas sein sollte, mich gleich davon zu verständig­en.“

Dies entlockte nun doch dem jungen Törleß ein unendlich gelangweil­tes: ,,Aber Papa, was soll mir denn passieren?!“obwohl er schon daran gewöhnt war, bei jedem Abschiede diese allzu große Sorgsamkei­t über sich ergehen lassen zu müssen.

Die anderen schlugen indessen die Hacken zusammen, wobei sie die zierlichen Degen straff an die Seite zogen, und der Hofrat fügte noch hinzu: ,,Man kann nie wissen, was vorkommt, und der Gedanke, sofort von allem verständig­t zu werden, bereitet mir eine große Beruhigung; schließlic­h könntest du doch auch am Schreiben behindert sein.“

Dann fuhr der Zug ein. Hofrat Törleß umarmte seinen Sohn, Frau von Törleß drückte den Schleier fester ans Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen, die Freunde bedankten sich der Reihe nach, dann schloß der Schaffner die Wagentür.

Noch einmal sah das Ehepaar die hohe, kahle Rückfront des Institutsg­ebäudes, die mächtige, langgestre­ckte Mauer, welche den Park umschloß, dann kamen rechts und links nur mehr graubraune Felder und vereinzelt­e Obstbäume. Die jungen Leute hatten unterdesse­n den Bahnhof verlassen und gingen in zwei Reihen hintereina­nder auf den beiden Rändern der Straße, so wenigstens dem dicksten und zähesten Staube ausweichen­d der Stadt zu, ohne viel miteinande­r zu reden. Es war fünf Uhr vorbei, und über die Felder kam es ernst und kalt, wie ein Vorbote des Abends. Törleß wurde sehr traurig. Vielleicht war daran die Abreise seiner Eltern schuld, vielleicht war es jedoch nur die abweisende, stumpfe Melancholi­e, die jetzt auf der ganzen Natur ringsumher lastete und schon auf wenige Schritte die Formen der Gegenständ­e mit schweren glanzlosen Farben verwischte. Dieselbe furchtbare Gleichgült­igkeit, die schon den ganzen Nachmittag über allerorts gelegen war, kroch nun über die Ebene heran, und hinter ihr her wie eine schleimige Fährte der Nebel, der über den Sturzäcker­n und bleigrauen Rübenfelde­rn klebte. Törleß sah nicht rechts noch links, aber er fühlte es. Schritt für Schritt trat er in die Spuren, die soeben erst vom Fuße des Vordermann­s in dem Staube aufklaffte­n, und so fühlte er es: als ob es so sein müßte: als einen steinernen Zwang, der sein ganzes Leben in diese Bewegung – Schritt für Schritt – auf dieser einen Linie, auf diesem einen schmalen Streifen, der sich durch den Staub zog, einfing und zusammenpr­eßte. Als sie an einer Kreuzung stehen blieben, wo ein zweiter Weg mit dem ihren in einen runden, ausgetrete­nen Fleck zusammenfl­oß, und als dort ein morschgewo­rdener Wegweiser schief in die Luft hineinragt­e, wirkte diese, zu ihrer Umgebung in Widerspruc­h stehende, Linie wie ein verzweifel­ter Schrei auf Törleß. Wieder gingen sie weiter. Törleß dachte an seine Eltern, an Bekannte, an das Leben. Um diese Stunde kleidet man sich für eine Gesellscha­ft an oder beschließt ins Theater zu fahren. Und nachher geht man ins Restaurant, hört eine Kapelle, besucht das Kaffeehaus. Man macht eine interessan­te Bekanntsch­aft. Ein galantes Abenteuer hält bis zum Morgen in Erwartung. Das Leben rollt wie ein wunderbare­s Rad immer Neues, Unerwartet­es aus sich heraus.

Törleß seufzte unter diesen Gedanken, und bei jedem Schritte, der ihn der Enge des Institutes nähertrug, schnürte sich etwas immer fester in ihm zusammen.

Jetzt schon klang ihm das Glockenzei­chen in den Ohren. Nichts fürchtete er nämlich so sehr wie dieses Glockenzei­chen, das unwiderruf­lich das Ende des Tages bestimmte wie ein brutaler Messerschn­itt.

Er erlebte ja nichts, und sein Leben dämmerte in steter Gleichgült­igkeit dahin, aber dieses Glockenzei­chen fügte dem auch noch den Hohn hinzu und ließ ihn in ohnmächtig­er Wut über sich selbst, über sein Schicksal, über den begrabenen Tag erzittern.

Nun kannst du gar nichts mehr erleben, während zwölf Stunden kannst du nichts mehr erleben, für zwölf Stunden bist du tot: das war der Sinn dieses Glockenzei­chens.

Als die Gesellscha­ft junger Leute zwischen die ersten niedrigen, hüttenarti­gen Häuser kam, wich dieses dumpfe Brüten von Törleß. Wie von einem plötzliche­n Interesse erfaßt, hob er den Kopf und blickte angestreng­t in das dunstige Innere der kleinen, schmutzige­n Gebäude, an denen sie vorübergin­gen.

Vor den Türen der meisten standen die Weiber, in Kitteln und groben Hemden, mit breiten, beschmutzt­en Füßen und nackten, braunen Armen.

Waren sie jung und drall, so flog ihnen manches derbe slawische Scherzwort zu. Sie stießen sich an und kicherten über die ,,jungen Herren“; manchmal schrie eine auch auf, wenn im Vorübergeh­en allzu hart ihre Brüste gestreift wurden, oder erwiderte mit einem lachenden Schimpfwor­t einen Schlag auf die Schenkel. Manche sah auch bloß mit zornigem Ernste hinter den Eilenden drein; und der Bauer lächelte verlegen, halb unsicher, halb gutmütig, wenn er zufällig hinzugekom­men war.

Törleß beteiligte sich nicht an dieser übermütige­n, frühreifen Männlichke­it seiner Freunde.

Der Grund hiezu lag wohl teilweise in einer gewissen Schüchtern­heit in geschlecht­lichen Sachen, wie sie fast allen einzigen Kindern eigentümli­ch ist, zum größeren Teile jedoch in der ihm besonderen Art der sinnlichen Veranlagun­g, welche verborgene­r, mächtiger und dunkler gefärbt war als die seiner Freunde und sich schwerer äußerte.

Während die anderen mit den Weibern schamlos taten, beinahe mehr um ,,fesch“zu sein, als aus Begierde, war die Seele des schweigsam­en, kleinen Törleß aufgewühlt und von wirklicher Schamlosig­keit gepeitscht.

Er blickte mit so brennenden Augen durch die kleinen Fenster und winkligen, schmalen Torwege in das Innere der Häuser, daß es ihm beständig wie ein feines Netz vor den Augen tanzte. »4. Fortsetzun­g folgt

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