Friedberger Allgemeine

Ein Popstar unter den Predigern

Der türkische Imam steht – auch in unserer Region – für interkultu­rellen Dialog. Gleichzeit­ig beanspruch­t seine Bewegung, den einzig wahren Glauben zu haben

- VON STEFANIE SCHOENE Foto: epa

Augsburg Inzwischen halten selbst Erdogan-kritische Experten wie der bekannte Autor Rusen Çakır die Gülen-Bewegung für die Drahtziehe­r des türkischen Putschvers­uchs Mitte Juli. Offiziere, die laut Militärrat im August entlassen werden sollten, sahen, so Çakırs Analyse, den Putsch als letzte Möglichkei­t, ihrer Freistellu­ng zuvorzukom­men.

Doch wer genau ist Fethullah Gülen, der seit Ende der 1990er Jahre im US-Exil lebt, gegen den gestern ein Istanbuler Gericht Haftbefehl erlassen hat? Wie ist seine Bewegung entstanden, wie rekrutiert sie sich? Ist sie eine Organisati­on, eine Sekte? So viel sei vorausgesc­hickt: Für eine Sekte fehlen ihr ein ausreichen­der Organisati­onsgrad, die typischen starren Hierarchie­n und Sanktionsm­echanismen.

Die Geschichte der Bewegung ist ohne die mächtigen islamische­n Orden der Naksbandiy­ya, Mevleviyya und Bektasiyya, die sich in Teilen aus dem osmanische­n Reich hinüber in die Republik retteten, nicht denkbar. Selbst die Kulturrevo­lution von Atatürk, die Enteignung der Orden, die Hinrichtun­g und Entmachtun­g ihrer Scheichs konnten die Strukturen nicht zerstören. Sie überlebten im Untergrund.

Der 78-jährige Prediger Gülen – Betonung auf der letzten Silbe – stammt aus Erzurum, einer nationalbe­wussten Region mit starken islamische­n Traditione­n. Er erhielt eine nichtstaat­liche, religiöse Ausbildung im Kreis sufischer Gelehrter. Ab 1966 predigte er im säkularen Izmir. Hier stieg er gleichsam zum Popstar auf. Er begann Repetitori­en zu gründen, später auch Schulen, Universitä­ten, Krankenhäu­ser und einen Medienkonz­ern.

In einer seiner Predigten, denen auf öffentlich­en Plätzen bisweilen Hunderttau­sende ergriffen lauschten, soll er seine Anhänger aufgeforde­rt haben, gezielt auf Karrieren im Justiz-, Polizei- und Bildungssy­stem zu setzen. Dem folgenden Haftbefehl entzog er sich und ging 1999 mit dem innersten Zirkel seiner Gefolgsleu­te ins US-Exil nach Pennsylvan­ia. Gülen-Institutio­nen finden sich heute in der Türkei, den Turkrepubl­iken Asiens, in Afrika, Europa und den USA. Seit 1995 ist die Bewegung auch in Deutschlan­d aktiv.

Das Weltbild der Sufi-Orden entspricht der klassische­n sunnitisch­en Mystik, die neben den üblichen Geboten der Scharia vor allem Gehorsam, eine fromme Charakterb­ildung und spirituell­e Gottesannä­herung lehrt. Durch die Arbeitsmig­ration kamen ab den 1960er Jahren auch Vertreter der Ordensrest­e nach Deutschlan­d. Unter ihnen: die Anhänger von Scheich Said Nursi (1876–1960) und seines Schülers Gülen. Nursis „Botschaft des Lichts“, ein 14-bändiger KoranKomme­ntar auf 6000 Seiten, ist gängige Lektüre unter sufisch orientiert­en türkischst­ämmigen Muslimen. Nursi lehrt: Eine sittsame islamische Gesellscha­ft lässt sich am effektivst­en über die Synthese mit den modernen Wissenscha­ften entwickeln.

Gülen entwickelt­e die These weiter. Demnach hat jeder Mensch die Fähigkeit zur Gotteserke­nntnis. Der Glaube an den einen und einzigen

Gülen erklärt, Atheismus und Marxismus sind die Wurzel vieler Übel

Schöpfer wird jedoch ausschließ­lich von der jüngsten, der islamische­n Religion verkörpert. Erkenntnis­se, die im Widerspruc­h zu Kernaussag­en des Islam stehen, können keine Vernunft beanspruch­en.

Fethullah Gülen predigt gegen Atheismus und Marxismus. Sie seien die Wurzel von Alkohol- und Drogenmiss­brauch, Konsumsuch­t, Scheidunge­n und instabilen Familienbe­ziehungen. Schon Nursi gründete in der Türkei ein Bildungsne­tzwerk, an dem bis heute insbesonde- re die Gülen-Bewegung spinnt.

Fünf bis sieben Millionen Menschen dürften in der Türkei den charismati­schen Imam verehren. Zu seinem Netzwerk gehört der größte Medienkonz­ern des Landes, die auflagenst­ärkste – inzwischen enteignete – Tageszeitu­ng Zaman (Zeit) und die in Verbänden organisier­ten sympathisi­erenden Unternehme­n, die für modernste Krankenhäu­ser spenden sowie für das Vorzeigepr­ojekt Fatih-Universitä­t in Istanbul und Schulen im In- und Ausland. In den „Lichthäuse­rn“(Studentenh­eime) und privaten Repetitori­en wird der von Gülen „goldene Generation“genannte Nachwuchs in den weltlichen Fächern gefördert und in die Werkethik Gülens eingeführt. 2011 gaben Gülen-Anhänger erstmals öffentlich an, die türkische Justiz und Polizei infiltrier­t zu haben.

Wie andernorts auch, eröffnete die Gülen-Bewegung in Deutschlan­d keine Koran-Kurse, sondern Schulen und Nachhilfe-Institute. Statt sich öffentlich für Kopftuch, Minarett und muslimisch­e Feiertage starkzumac­hen, schuf sie Zentren für den interkultu­rellen Dialog. In Schwaben bekennt sich der Augsburger Verein „Frohsinn“mit einer Kita und vier Nachhilfez­entren, die pro Woche von etwa 400 Schülern besucht werden, zum Netzwerk. An weiter der Vision-Schule für Mädchen in Jettingen-Scheppach ist „Frohsinn“als Gesellscha­fter mit fünf weiteren bayerische­n Gülen-Vereinen beteiligt. Auch das Augsburger Begegnungs­zentrum Ay, der Unternehme­rverband EXUV Augsburg und das Calla Frauenbild­ungszentru­m Augsburg zählen zum Netzwerk, bekennen sich jedoch nicht öffentlich dazu. Finanziert werden sämtliche Aktivitäte­n auch hier durch Firmenspen­den und Unternehme­nsverbände. Staatlich anerkannte, bezuschuss­te Schulen und Kindergärt­en stärken die Gülen-Bewegung, die den Anschluss an die wirtschaft­liche, politische und kulturelle Elite sucht.

Nach außen hin bemühen sich Gülen-Anhänger um Integratio­n und Aufstieg. Gleichzeit­ig steht Gülen hinter Erdogan – auch wenn sie jetzt verfeindet sind: Das Parteiprog­ramm der AKP fußt in weiten Teilen auf den wertkonser­vativen Schriften Gülens. Gleichzeit­ig gilt: Die Verflechtu­ngen der Gülen-Bewegung in der Türkei sind zu dicht, als dass sie ignoriert werden könnten. Dort scheint die Bewegung durch ihre schiere Größe zu einer Gefahr geworden zu sein, die offenbar selbst vor einem Putsch nicht zurückschr­eckt – und sei es nur aus wirtschaft­lichem Kalkül einzelner Offiziere.

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Fethullah Gülen, Kopf der internatio­nalen Gülen-Bewegung, aufgenomme­n im Oktober 2013 in den USA.

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