Bei den weißen Löwen
Südafrika Viele Safaris sind für Kinder tabu. Doch im Sanbona-Reservat lernen bereits Vierjährige den Umgang mit der Natur
Montag, 8.30 Uhr Wer sich mit einem Vierjährigen auf den Weg von Kapstadt ins Wildtierreservat Sanbona macht, der weiß, dass er sich auf eine dieser „Wann-sindwir-endlich-da-Fahrten“begibt. Zum Glück warten während der nächsten vier Stunden: ein vier Kilometer langer Autobahn-Tunnel, gefräßige Bärenpaviane am Straßenrand und immer wieder Vogel Strauße auf ausgedörrtem Farmland. Und es lockt die Aussicht auf die erste Safari im Leben unsres Sohns. „Papa, wird es jetzt gefährlicher und gefährlicher?“, fragt Moritz. „Ich habe einen Löwen gesehen! Der frisst Männer!“
11.25 Uhr
Der Löwe lässt auf sich warten. Stattdessen: Kilometer um Kilometer Zäune. Die Tierwelt Südafrikas will beschützt sein. Vor Wilderern. Vor Krankheitserregern wie TBC. Das Auto vibriert auf der Piste, die Kurven werden enger, Anstiege und Abfahrten steiler. So etwas lenkt vom Löwenmangel ab. „Schneller!“, fordert Moritz und quietscht vergnügt, als würde Papa soeben den allergrößten Kindergartenquatsch anstellen.
12.15 Uhr
Gleich hinter dem Security-Mann an der Einfahrt zum Reservat warten rote Warnschilder mit Giraffen, Büffeln und: mit Löwen! Entsprechend gering fällt Moritz’ Begeisterung über die erste Antilope und das erste Zebra aus, die im Dickicht am Straßenrand Gras fressen. Er sucht stattdessen nach Löwen, die leider Besseres zu tun haben, als in der Mittagshitze für kleine Jungen zu posieren.
12.37 Uhr
Die Lodge! Ein paar weiße, strohgedeckte Häuser mitten in der Wildnis. Eine Frau reicht eiskalte Erfrischungstücher. Und Orangensaft. Und einen roten Kinder-Safarirucksack. Später am Pool bestaunt Moritz die MonsterAmeisen. Aber nur, bis sich eine Pavian-Familie anschleicht. Nichts kann einen kleinen Jungen so sehr in einer Position fesseln wie die perfekte Mischung aus Neugierde und Angst. Der Pavian-Spuk endet mit lautem Klatschen. Das LodgePersonal treibt die Paviane in die Flucht.
16 Uhr
Pünktlich auf die Minute erscheint ein Mann in braunem Fleece und tarngrünen Hosen. „Ich bin Marco“, sagt der Mann und erzählt Moritz, dass er auch einen kleinen Sohn hat, Dante. Moritz starrt auf Marcos beeindruckende Kette, an deren Ende ein fünf Zentimeter langer Pavianzahn baumelt. „Do you want to see Löwe? (Willst du den Löwe sehen?)“, fragt Marco. Moritz nickt.
16.45 Uhr
Die dornige Leibspeise der Giraffen, Akazien, kratzen ohrenbetäubend auf dem Stoffdach des Safariwagens. Immer schaukeliger wird die Fahrt auf den Pisten, ausgehöhlten, weggespülten, erodierten Spuren im Bett des ausgetrockneten Brak River. „Schneller!“, fordert Moritz, ohne die leicht sorgenvollen Gesichter seiner Eltern auch nur eines Blicks zu würdigen.
16.55 Uhr, Giraffen
Und plötzlich: Giraffen. Erst etwas weiter weg, dann am Straßenrand und später ein Bulle, der breitbeinig auf der Piste steht und an einer Baumkrone nascht. Marco will Moritz’ Zunge sehen. Marco streckt seine eigene Zunge heraus. Und zeigt dann mit beiden Händen, wie lange so eine Giraffenzunge ist. Eine Giraffenzunge ist lang! Sehr lang! Zum Schlafen, erzählt Marco, halten sich Giraffen manchmal mit der Zunge an einem Ast fest.
17.02 Uhr
Die zweite Begegnung mit Zebras überzeugt auch Moritz. Stoisch stehen sie am Wegrand, zeigen ihr wunderschönes Fell und, woher Moritz auch immer den Ausdruck hat, ihre „langen Pimmel“. Erst nach gut zehn Minuten fällt Moritz ein, dass er eigentlich unterwegs zu den gefährlichen Löwen ist. Marco lässt den Motor wieder an und tuckert in die Dämmerung. Aber weit und breit keine Löwen. Die erste Ausfahrt ist eine wichtige Lektion: Selbst die umzäunte Wildnis ist kein Zoo. Zumindest, wenn sie wie Sanbona 540 Quadratkilometer umfasst. „So groß wie Singapur“, sagt Marco. Hilft nur bedingt weiter.
18.07 Uhr, Nashörner
Immer- hin. Eine trächtige Nashorn-Mutter und ihr zweijähriges Kalb. „Baby!“, ruft Moritz und kuschelt sich an seine eigene Mama. Die Nashörner grasen in der untergehenden Sonne und ziehen irgendwann weiter in die Ufervegetation des Brak River. „Wo ist eigentlich das Papa-Nashorn?“, will Moritz wissen. „Das kümmert sich nicht um seine Kinder“, antwortet Marco. Auf dem Rückweg unter sternklarem Himmel schläft Moritz unter zwei dicken olivgrünen Decken ein.
Dienstag, 15.45 Uhr
Moritz nimmt heute seinen roten Safarirucksack mit, was praktisch ist angesichts der Steine, Zweige und Blätter, die er in letzter Zeit von jedem noch so kurzen Spaziergang mitbringt. Dann entdeckt er Marco in der Einfahrt und kehrt in dessen Armen zurück an die Rezeption. „Heute gibt es Löwen“, verspricht der Ranger, sie sind gesichtet worden am nördlichen Ende des Reservats. Unterwegs lenkt jedoch etwas beinahe ebenso Aufregendes vom Thema ab: „Elefantenkaka!“
16.02 Uhr, Elefanten
Graue Flecken am anderen Ufer des trockenen Flussbetts! Der Land Cruiser schaukelt bedrohlich durchs Akaziendickicht und kommt inmitten einer zwölfköpfigen Elefantenherde zum Stehen. „Hathi!“, ruft unser dschungelbucherprobter Sohn. Echte Elefanten sind stoischer als Disneyelefanten. Sie genießen es, wenn Land Cruiser ihretwegen stehenbleiben müssen. Noch mehr genießen sie es, wenn Land Cruiser sehr lange stehenbleiben müssen.
16.48 Uhr
Wie am Vortag streift eine Giraffenfamilie durch das stachelige Gehölz. Mit seinen Fingerchen imitiert Moritz deren Art zu gehen und ihre langen Hälse zu bewegen. Dann beschließt er: „Und jetzt zu den Löwen!“Marco biegt auf die Schotterpiste und jagt ans nördliche Ende des Reservats, wo sie am Morgen alle sieben ihrer weißen Löwen gesichtet hatten. Am Ufer eines tiefblauen Tümpels mit trügerisch glatter Oberfläche hält er schließlich an. Plötzlich: eine kleine Fontäne. Dann zwei dunkelgraue Augen. Zwei riesige Nasenlöcher. Und ein noch größeres Maul. Ein Flusspferd! Eine halbe Minute lang zeigt es seinen Kopf und verschwindet wieder im kühlen Nass.
17.27 Uhr, Weiße Löwen
Ein paar Meter abseits des Tümpels hat sich etwas bewegt. Marco sucht mit seinem ellenlangen Fernglas den Rand eines Wäldchens ab. Und hält inne. Da sitzen sie! Weit weg unter einem Baum. Zwei weiße Löwen. Weil Moritz zu klein ist, um das Ranger-Fernglas zu halten, bequemt sich das Weibchen, kurz aufzustehen. „Der Löwe hat Hunger“, flüstert Moritz nach der sehr kurzen Sichtung.
17.41 Uhr
Und Marco hat nichts Besseres zu tun, als kurz darauf mit dem Peilsender in der Hand auf einen Hügel zu steigen, um nach Signalen der Geparden zu suchen. Irgendwo im hohen Gras müssen sie versteckt sein. „Marco!“, ruft Moritz voller Angst, „der Löwe!“Zum Glück kommt Marco rasch zurück. Kein Gepard für uns, sagt Marco. Kein Marco für die Löwen, denkt Moritz.
Donnerstag 6.30 Uhr
Die dritte Nachmittagssafari am Vortag führte zu den Büffeln, die auf Sanbona getrennt gezüchtet und bald schon in das restliche Ökosystem entlassen werden sollen. Sie führte zu einer Pavianhorde mit Weibchen, deren sehr rote Popos die Aufmerksamkeit der Männchen, aber auch von Moritz und Marcos Sohn Dante erregten, der ausnahmsweise mitfahren durfte. Heute aber, sagt Marco, sei er sich ganz sicher, dass Moritz endlich die Löwen von ganz nah sehen werde. High Five zwischen dem 33-jährigen Ranger und dem 4-jährigen Jungen.
7.12 Uhr
Und da liegen sie. Keine fünf Kilometer von der Lodge entfernt, beinahe am Rand der Piste. Er, der große weiße Löwe mit der weißen Mähne, und sie, seine Mutter und seine Schwester. Marco erzählt, wie selten weiße Löwen sind. Und er erzählt, wie wichtig es sei, sie vor Wilderern und Großwildjägern aus Europa und den USA zu beschützen. Doch dann interessiert sich Moritz vor allem für das Naheliegende: „Haben die Löwen Hunger?“Meistens, sagt Marco, ein Beutezug alle vier Tage – mal ein Zebra, mal eine Antilope, gelegentlich auch mal eine Giraffe. Große Kinderaugen. Und noch mehr Respekt vor den gefährlichen Löwen Südafrikas.
7.34 Uhr
Plötzlich bewegt sich etwas im hohen Gras. Zwei hellbraune Ohren recken sich empor, dann ein Kopf und schließlich der ganze Körper einer braunen Löwin, die sich nur zehn Meter von den weißen Artgenossen versteckt hielt. Kein Zebra, keine Antilope, keine Giraffe in Sicht. Und schon ziemlich warm. Zu warm für eine Jagd. Nach einer halben Stunde will Moritz weiterfahren. Sogar Löwen werden irgendwann langweilig, wenn sie nur dösen. Zum Glück hat Marco eine Idee. Im Schilf unten am Stausee liegt ein Boot!
8.12 Uhr
Der Höhepunkt einer Kindersafari auf Sanbona ist kein Löwe. Nicht einmal einer der kaum je zu sehenden Leoparden des Reservats könnte übertreffen, was nun folgt: Moritz darf mit ans Steuerrad. Mitten auf dem Stausee, bei Höchstgeschwindigkeit, dreht das Boot mit den beiden Toyota-Außenbordmotoren ein paar Kreise, während ein Vierjähriger vor Vergnügen schreit.
Freitag, 11 Uhr
Das Ende der Safari. Abschied von Marco, Abschied von Sanbona. Im Auto fragt Moritz: „Papa, warum kümmert sich das Papa-Nashorn nicht um seine Kinder?“