Die Macht des Unbekannten
Die Wucht der Wassermassen, Geheimnisse der Meerestiefe? Ein Tropfen, der unsere Welt zerstört? Unser Leben hängt von einem Element ab, das wir eigentlich gar nicht richtig kennen
Wir könnten in diesem Teil der Serie eine moralisch hochtrabende Diskussion über das Recht auf Trinkwasser führen. Oder auf den Lebensmittelkonzern Nestlé schimpfen, der das Grundwasservorkommen in Pakistan anzapft. Könnten wir. Aus diesem Blickwinkel schiene es aber so, als würden die Menschen – die herrschende Spezies dieses Planeten – hoheitlich darüber richten, was sie mit dem Wasser anfangen. Vielleicht sollten wir das Thema aber von einer anderen Seite angehen… Und mal darüber nachdenken, was das Wasser eigentlich mit uns Menschen anstellen kann.
Wir lieben es. Wir lieben das kühle Glas Wasser, die warme Badewanne und das Rauschen des Ozeans. Wir Menschen führen eine schicksalhaft romantische Beziehung mit diesem Element. Doch macht Liebe nicht bekanntlich blind? Vielleicht sollten wir uns nicht auf diesem Gefühl der Geborgenheit ausruhen. Denn eigentlich haben wir keine Ahnung, womit wir es bei dem Partner, der ständig bei uns ist, zu tun haben.
Es gibt Momente, da entblößt er seine Kraft vor uns. Bäche, die sonst ruhig und unscheinbar durch unsere Ortschaften fließen, haben im Juni in Bayern für so starke Überschwemmungen gesorgt, dass sieben Menschen dadurch ihr Leben verloren haben. Die Wucht dieser Massen – Wasser ist 1300-mal schwerer als Luft – hat Anhänger in Hauswände geworfen und Straßen weggerissen. Kein Meteorologe hat das kommen sehen. Es bleibt die Frage nach dem „Warum“. Im Juni, wenn die Sonne hoch steht, steigt viel warme Luft auf, während vom Meer kalte Luft zu uns strömt. Die Tiefdruckgebiete hingen statisch über Bayern… Aber das ist nicht die ganze Erklärung. Liegt’s am Klimawandel? Werden Starkregenfälle nun häufiger? Wir können nicht genau sagen, was da auf uns zukommt. Derzeit leiden die Bewohner der US-Staaten Lousiana und West Virginia unter den Folgen heftiger Überschwemmungen. Mindestens 30 Menschen sind gestorben.
Wie in Beziehungskonflikten üblich, so müssen wir uns auch die guten Seiten dieser Wassermassen samt ihren starken Strömungen vor Augen halten: die Hochkultur am Nil, der Handelsstraße von Ägypten, die Wirtschaftsmacht der Hansestädte im Mittelalter – all das wäre ohne kaum möglich gewesen. Noch heute erfolgen über 60 Prozent des europäischen Handels über die Meere.
Die Ozeane sind für uns nicht nur schöne Badeparadiese und praktische Bewegungsuntergründe für Containerschiffe – sie tun uns noch einen Gefallen. Als riesige Filter nehmen sie einen großen Teil des Kohlendioxids auf, das wir in die Atmosphäre befördern (um Produkte herzustellen, die wir in Containerschiffen um die Welt schicken können). Gebunden im Kalk versinkt ein Teil des CO2 auf ewig im Meeresboden. Gut für uns. Doch dieser Prozess braucht Zeit. Ein paar tausend Jahre und das Meer könnte den Treibhauseffekt stoppen.
Doch heute ist so viel CO2 in der Atmosphäre, dass ein Stau entsteht. Es sammelt sich an der Wasseroberfläche, dort entsteht Kohlensäure – und das Meer wird sauer. Einzelne Folgen haben Forscher bereits entdeckt. Die Larven des Clownfischs (Nemo) können bei niedrigem pHWert nicht gut riechen. Dadurch finden sie ihr zukünftiges Zuhause, die Seeanemonen, nicht. Es ist so, als hätten wir unseren Partner überstrapaziert. Als würde er tatsächlich „sauer“auf uns. Dabei brauchen wir ihn doch, mit den Fischen, Krebsen und Muscheln… Aber wir wissen schlichtweg nicht, wie das Meer auf die Übersäuerung reagieren wird.
Vielleicht lieben und bewundern wir das Meer deswegen so sehr, weil es für uns, die wir das All und die Atomspaltung schon entdeckt haben, nach wie vor ein Mysterium ist. Erst ab Ende des 19. Jahrhunderts wagten Forscher Tauchgänge. Die erste nennenswerte Entdeckung machte Robert Ballard 1977. Er fand Leben in einer Tiefe, in der es kein Licht gibt. Würmer und Krebse halten sich in der Nähe von energiereichen Quellen auf. 400 Grad Celsius herrschen an der Ausströmstelle dieser Schlote. Das Meer birgt noch einige dieser für uns unerklärlichen Geheimnisse. Etwa 90 Prozent der Organismen, die dort leben, sind uns unbekannt. Unser Partner teilt eben nicht alles mit uns.
Wenn wir ihn doch nur verstehen könnten. Bei der Anomalie des Wassers fängt es an. Immerhin wissen wir, dass sie der Grund dafür ist, dass wir leben. Normalerweise werden Stoffe bei abnehmender Temperatur kleiner. Doch Wasser dehnt sich unterhalb von 3,98 Grad Celsius wieder aus, deswegen platzt auch die Bierflasche im Gefrierfach. Die Dichte von Eis ist kleiner, es legt sich wie ein Wärmeschutz über das Wasser. Würde Wasser von unten gefrieren, würde nach und nach Wärme entweichen, bis alle Meere zugefroren wären. Die Strahlen der Sonne würden dann von über 70 Prozent der Erdoberfläche reflektiert. Unser Planet würde auskühlen. Den Rest denken wir uns jetzt einfach… Das Wasser, es ist also unser Retter – romantisch gesagt. Plötzlich war es da, auf der Erde, und hat uns einen Lebensraum geschaffen. Wir sind von Wasser abhängig und wissen nicht einmal, woher es kommt. Aus dem Erdkern, vermuten Forscher. Fraglich ist nach wie vor, ob das die ganze Menge – immerhin 1,3 Milliarden Kubikkilometer – erklärt.
Woher auch immer es kommt, jetzt ist es da, das Wasser. Und wir lieben ihn, unseren geheimnisvollen Partner. Weil wir ihm alles verdanken? Weil er ein Teil von uns ist, zu 65 Prozent (und das nicht einmal in einem romantischen, sondern in einem durchaus wissenschaftlichem Sinn)? Womöglich. Oder es liegt daran, dass er uns Kraft gibt. Und da wären wir beim geheimnisvollen Glas Wasser – und bei Professor Gerald H. Pollack von der University of Washington. Er beschreibt in seinem Buch „Wasser, viel mehr als H2O“eine bislang unentdeckte Energie, die im Wasser verborgen liegt.
Pollacks Erklärung beginnt mit einem Experiment. Zunächst füllt man in ein Wasserglas die chemischen Stoffe Bicarbonat, Peroxid und Luminol, ein unlöslicher Stoff, der in Krimis zur Spurensuche verwendet wird. Daraufhin beginnt das Wasser zu leuchten. Es hat sich gezeigt, dass das Licht zwar schwächer wird, aber über etliche Monate hinweg anhält. Obwohl das Glas versiegelt ist, im Dunkeln steht und sämtliche chemische Reaktionen längst abgelaufen sind. Woher kommt also die Energie, die das Leuchten erhält? Vom Wasser selbst, glaubt Pollack. Er vermutet, dass dieses Element aus seiner Umgebung Energie aufnehmen kann, die es dann zum Beispiel durch Licht wieder abgibt.
Pollack glaubt außerdem, dass das Wasser in unseren Körpern diese Energie benötigt, um in unseren Zellen einen vierten Aggregatzustand aufrechtzuerhalten. Ihm zufolge gibt es Wasser nicht mehr nur in gasförmiger, flüssiger und fester Form, sondern auch als eine Art Kristall. Er hat beobachtet, dass Wasser sich anders verhält, wenn es mit Oberflächen in Berührung kommt – und das wäre in unserem Körper praktisch überall der Fall. In einer etwa einen viertel Millimeter dicken Zone neben der Kontaktfläche ordnet sich das Wasser und reinigt sich selbst, indem es alle fremden Stoffe aus dieser Zone verdrängt. Dadurch tritt es dort wie eine Art flüssiger Kristall auf.
Weil die Abstände in unseren Zellen so klein sind, würden wir beinahe ausschließlich aus diesem Kristall bestehen. Pollack zufolge könnte das eine Erklärung sein für die vielen Funktionen, die unseren Körper so besonders machen. Dann wäre es kein Wunder, dass wir zu Wasser eine so außergewöhnliche Beziehung haben. Und die Wissenschaft müsste vieles völlig neu betrachten.
Hohe Wellen hat diese Theorie bislang nicht geschlagen. Nicht viele Forscher beschäftigen sich mit Wasser. Das mag daran liegen, dass es trotz seiner ständigen Nähe so undurchschaubar für uns ist, dass sich einige Wissenschaftler schon mit falschen Erkenntnissen blamiert haben. Forscher der UdSSR veröffentlichten in den 60ern ihre Theorie vom „Poly-Wasser“: ein Wasser, das durch seine Polymer-Struktur eine sirupartige Viskosität annimmt. Damalige Schlagzeilen verkündeten den Untergang der Welt, sollte ein Tropfen Poly-Wasser in die Meere gelangen, eine Kettenreaktion auslösen und den weltweiten Wasservorrat in eine klumpige Masse verwandeln. Kein Grund zur Beunruhigung – diese Theorie gilt als widerlegt.
Hin und wieder ist es gut, die rosarote Brille mal abzunehmen. Und auch, wenn es mal kriselt: Sind nicht gerade die Beziehungen die schönsten, die spannend bleiben?