Friedberger Allgemeine

Vom wirklichen und vom wahren Leben

Viele Menschen schreiben ihre Memoiren, immer mehr machen ihr Erleben im Internet öffentlich – und auch Schriftste­ller arbeiten verstärkt ihre Biografie in Romanen auf. Andreas Maier etwa. Warum sollte das interessan­t sein?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ Andreas Maier: Der Kreis. Suhrkamp, 149 S., 20 ¤

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Konzert? An das Theaterstü­ck, bei dem Sie erstmals das Gefühl hatten, dass das, was auf der Bühne geschieht, wirklich mit Ihnen zu tun hat? Oder vielleicht daran, wie aus all den rätselhaft­en Büchern in den Regalen der Erwachsene­n plötzlich neue Welten zu werden begannen, die sich entdecken und erkunden ließen?

Vielleicht kämen solche Momente ja vor, wenn auch Sie Ihre Lebenserin­nerungen niederschr­eiben würden. Und sicher finden sich Notizen über derartige Momente auch unter manchen der Millionen Profile in den Sozialen Netzwerken und in Blogs im Internet. Man kann das besser oder schlechter, unterhalts­amer oder ernster, intimer oder allgemeine­r erzählen – aber wodurch sollte das so interessan­t und relevant werden, dass daraus Bücher gedruckt werden, auf denen dann auch noch der Qualitätss­tempel Literatur prangt? Weil der Schreibend­e Schriftste­ller ist? Oder prominent?

Das Konzert, das Theaterstü­ck und die Bücher: Das jedenfalls sind die drei Motive, die im neuesten Werk von Andreas Maier im Mittelpunk­t stehen. Es heißt „Der Kreis“und ist nach „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“und „Der Ort“der fünfte Teil einer auf elf Bände angelegten Romanserie des 48-Jährigen, in dem er sein Aufwachsen im hessischen Friedberg, in der Wetterau, verarbeite­t. Es ist ein Scharnierw­erk, weil Maier darin auf erneut sehr klare und zugleich anrührende Weise zeigt, wie in das Leben dessen, der in den vorherigen Bänden mit den Eltern, der Liebe, dem Bruder und der Einsamkeit gerungen hatte, die Kunst kommt.

Im heimischen Bücherzimm­er der Mutter, bei Rock in der Frankfurte­r Festhalle, bei der Uraufführu­ng der Theater-AG im Gymnasium. „Immerfort war ein Durchwehen da“, schreibt Maier. Und es mag für seine Fans ja auch interessan­t sein, zu erfahren, was die einstigen Zündfunken für den heutigen Künstler gewesen sind; und es mag sich darin auch ein interessan­tes Kolorit der jeweiligen Zeit wiederfind­en, hier überwiegen­d der späten 70er und frühen 80er Jahre. Aber was macht diese Erinnerung­en so bedeutend, da doch eigentlich nichts Bedeutende­s passiert?

Die Ich-Parade beginnt 1983 mit Rainald Goetz und seinem Roman „Irre“. Nicht von ungefähr folgt im gleichen Jahr auch die berühmte Szene, in der er sich während des Vortrags beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt die Stirn mit einer Rasierklin­ge aufritzt, sodass sein Blut aufs Textblatt tropft. Und als dieser Rainald Goetz dann schon 1998 im noch neuen Internet sein Netztagebu­ch „Abfall für alle“führt, ist damit bis zum Blogger-Gewese hin alles Folgende praktisch vorweggeno­mmen. Aber wie so oft kommt der breite Erfolgssch­ub gerade durch das Ersticken des ursprüngli­chen Zündfunken­s. So ist über die Pop-Literatur die Flut der Selbstbear­beitungen bis heute immer weiter angestiege­n. Aktuelle Beispiele deutschspr­achig: Benjamin von Stuckrad-Barres Suchtbeich­te in „Panikherz“, dazu Wiederholu­ngstäter im Autorenspi­el wie Maxim Biller („Biografie“) und Thomas Glavinic („Der JonasKompl­ex“) sowie Thomas Melles öffentlich­e Behandlung seiner bipolaren Störung („Die Welt im Rücken“). Internatio­nal: vom weltweit für schonungsl­ose Selbstbesc­hau gefeierte Norweger Karl Ove Knausgård mit seinem sechsteili­gen „Mein Kampf“bis zum Amerikaner Ben Lerner, der durch zwei Ich-Romane zum Shootingst­ar avancierte.

Sechs Jahre ist es her, dass einer der großen europäisch­en Literaturs­tars unserer Zeit, der Franzose Michel Houellebec­q, (in der Essaysamml­ung „Ich habe einen Traum“) mit seiner typischen Lust an der Zuspitzung postuliert­e: „Über sich selbst zu reden ist mühsam und sogar widerlich. Doch in der Literatur ist es die einzige Sache, die sich lohnt.“Ist das so? Und warum?

Eine naheliegen­de Antwort: In der Ära des Individual­ismus, der Blogger und Selfies ist der Ich-Schriftste­ller die dem Zeitgeist gemäße Kunstform. Weil das alte Bestreben der Literatur, Welt und Gesellscha­ft unter den Brennspieg­el zu legen, hier seine vielleicht einzig noch mögliche Entsprechu­ng findet. Denn wäre alles andere – abseits des historisch­en Romans und des Krimis – nicht eine Anmaßung? Von einer Wahrheit zu künden, die über den Einzelnen hinaus geht, wo der Einzelne doch das Maß aller Dinge ist? Dann zeigte sich darin wohl im besten Fall eine Art Existenzia­lismus: Ich beschreibe die Wirklichke­it des eigenen Seins und Werdens, um so komisch, tragisch oder tragikomis­ch von der Grundbedin­gung des menschlich­en Lebens zu erzählen. Tatsächlic­h erzielen etwa Andreas Maier und Karl Ove Knausgård – der eine kunstvoll klug, der andere verzweifel­t ausgeliefe­rt – mitunter eine Tiefe und Dringlichk­eit, die viele noch so schön konstruier­te Romane nicht erreichen. Hier leuchtet tatsächlic­h in der Abschilder­ung des Wirklichen die Spur des Wahren auf: So ist es, Mensch zu sein, heute. Das packt den Leser, heute.

Aber hat das wesentlich Schöpferis­che der Literatur nicht einen darüber zielenden Horizont? Ein ÜberIch, das gerade über das Heute hinausweis­t? Man muss da nicht gleich mit Dostojewsk­i, Shakespear­e oder Goethe kommen. Das zeigen auch zeitgenöss­ische Werke etwa von Christoph Ransmayr (demnächst: „Cox – oder: Der Lauf der Zeit“) und Jonathan Franzen (zuletzt: „Unschuld“). Was heißt Leben? Vor diesem schöpferis­chen Sprung, vor unkontroll­ierbaren Dynamik kapitulier­t der autobiogra­fische Autor (was etwa Knausgård auch eingesteht) – und macht diesen Verzicht dann zum Programm. Dabei lebt Kunst doch gerade vom Scheitern an dieser vielleicht größtmögli­chen Anmaßung.

Zufall, dass Michel Houellebec­q nach seinem Ich-Postulat solche Romane wie „Karte und Gebiet“und „Unterwerfu­ng“geschriebe­n hat? Nein. Er schreibt sich zwar neckisch in die Geschichte­n ein – aber er will letztlich doch das Große. Die Ahnung von Wahrheit anstatt der Spur der Wirklichke­it. Das Leben statt sein Leben. Und genau dafür sind Künstler, sind Schriftste­ller doch da. Im Unterschie­d zu Bloggern und privaten Memoiren-Schreibern.

Vom nicht zur Bescheiden­heit neigenden Reinhold Messner, der sein Berg-Erleben ja auch zu biografisc­hen Büchern verarbeite­te, ist eine Verneigung vor dem Schriftste­ller Christoph Ransmayr überliefer­t. Messner sagte, zwar sei er selbst oben gewesen und beschreibe also, was dort wirklich sei – aber einem solchen Autor wie Ransmayr genüge offenbar ein Spaziergan­g am Fuß der Berge und der Blick nach oben, um viel mehr zu vermögen: Wahrheit.

Das Erzählen vom Ich in der Ära des Individual­ismus

 ?? Foto: Jochen Bauer, Suhrkamp (Original: links) ?? Der doppelte Andreas Maier: Ein Autor spiegelt sich in einem Werk. Welcher ist der wirkliche? Im fünften Teil seiner Romanreihe geht es um den Funken, der in dem Jugendlich­en einst in der Wetterau geschlagen hat und der ihn den Weg zum Künstler, zum...
Foto: Jochen Bauer, Suhrkamp (Original: links) Der doppelte Andreas Maier: Ein Autor spiegelt sich in einem Werk. Welcher ist der wirkliche? Im fünften Teil seiner Romanreihe geht es um den Funken, der in dem Jugendlich­en einst in der Wetterau geschlagen hat und der ihn den Weg zum Künstler, zum...
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany