Vom wirklichen und vom wahren Leben
Viele Menschen schreiben ihre Memoiren, immer mehr machen ihr Erleben im Internet öffentlich – und auch Schriftsteller arbeiten verstärkt ihre Biografie in Romanen auf. Andreas Maier etwa. Warum sollte das interessant sein?
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Konzert? An das Theaterstück, bei dem Sie erstmals das Gefühl hatten, dass das, was auf der Bühne geschieht, wirklich mit Ihnen zu tun hat? Oder vielleicht daran, wie aus all den rätselhaften Büchern in den Regalen der Erwachsenen plötzlich neue Welten zu werden begannen, die sich entdecken und erkunden ließen?
Vielleicht kämen solche Momente ja vor, wenn auch Sie Ihre Lebenserinnerungen niederschreiben würden. Und sicher finden sich Notizen über derartige Momente auch unter manchen der Millionen Profile in den Sozialen Netzwerken und in Blogs im Internet. Man kann das besser oder schlechter, unterhaltsamer oder ernster, intimer oder allgemeiner erzählen – aber wodurch sollte das so interessant und relevant werden, dass daraus Bücher gedruckt werden, auf denen dann auch noch der Qualitätsstempel Literatur prangt? Weil der Schreibende Schriftsteller ist? Oder prominent?
Das Konzert, das Theaterstück und die Bücher: Das jedenfalls sind die drei Motive, die im neuesten Werk von Andreas Maier im Mittelpunkt stehen. Es heißt „Der Kreis“und ist nach „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“und „Der Ort“der fünfte Teil einer auf elf Bände angelegten Romanserie des 48-Jährigen, in dem er sein Aufwachsen im hessischen Friedberg, in der Wetterau, verarbeitet. Es ist ein Scharnierwerk, weil Maier darin auf erneut sehr klare und zugleich anrührende Weise zeigt, wie in das Leben dessen, der in den vorherigen Bänden mit den Eltern, der Liebe, dem Bruder und der Einsamkeit gerungen hatte, die Kunst kommt.
Im heimischen Bücherzimmer der Mutter, bei Rock in der Frankfurter Festhalle, bei der Uraufführung der Theater-AG im Gymnasium. „Immerfort war ein Durchwehen da“, schreibt Maier. Und es mag für seine Fans ja auch interessant sein, zu erfahren, was die einstigen Zündfunken für den heutigen Künstler gewesen sind; und es mag sich darin auch ein interessantes Kolorit der jeweiligen Zeit wiederfinden, hier überwiegend der späten 70er und frühen 80er Jahre. Aber was macht diese Erinnerungen so bedeutend, da doch eigentlich nichts Bedeutendes passiert?
Die Ich-Parade beginnt 1983 mit Rainald Goetz und seinem Roman „Irre“. Nicht von ungefähr folgt im gleichen Jahr auch die berühmte Szene, in der er sich während des Vortrags beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt die Stirn mit einer Rasierklinge aufritzt, sodass sein Blut aufs Textblatt tropft. Und als dieser Rainald Goetz dann schon 1998 im noch neuen Internet sein Netztagebuch „Abfall für alle“führt, ist damit bis zum Blogger-Gewese hin alles Folgende praktisch vorweggenommen. Aber wie so oft kommt der breite Erfolgsschub gerade durch das Ersticken des ursprünglichen Zündfunkens. So ist über die Pop-Literatur die Flut der Selbstbearbeitungen bis heute immer weiter angestiegen. Aktuelle Beispiele deutschsprachig: Benjamin von Stuckrad-Barres Suchtbeichte in „Panikherz“, dazu Wiederholungstäter im Autorenspiel wie Maxim Biller („Biografie“) und Thomas Glavinic („Der JonasKomplex“) sowie Thomas Melles öffentliche Behandlung seiner bipolaren Störung („Die Welt im Rücken“). International: vom weltweit für schonungslose Selbstbeschau gefeierte Norweger Karl Ove Knausgård mit seinem sechsteiligen „Mein Kampf“bis zum Amerikaner Ben Lerner, der durch zwei Ich-Romane zum Shootingstar avancierte.
Sechs Jahre ist es her, dass einer der großen europäischen Literaturstars unserer Zeit, der Franzose Michel Houellebecq, (in der Essaysammlung „Ich habe einen Traum“) mit seiner typischen Lust an der Zuspitzung postulierte: „Über sich selbst zu reden ist mühsam und sogar widerlich. Doch in der Literatur ist es die einzige Sache, die sich lohnt.“Ist das so? Und warum?
Eine naheliegende Antwort: In der Ära des Individualismus, der Blogger und Selfies ist der Ich-Schriftsteller die dem Zeitgeist gemäße Kunstform. Weil das alte Bestreben der Literatur, Welt und Gesellschaft unter den Brennspiegel zu legen, hier seine vielleicht einzig noch mögliche Entsprechung findet. Denn wäre alles andere – abseits des historischen Romans und des Krimis – nicht eine Anmaßung? Von einer Wahrheit zu künden, die über den Einzelnen hinaus geht, wo der Einzelne doch das Maß aller Dinge ist? Dann zeigte sich darin wohl im besten Fall eine Art Existenzialismus: Ich beschreibe die Wirklichkeit des eigenen Seins und Werdens, um so komisch, tragisch oder tragikomisch von der Grundbedingung des menschlichen Lebens zu erzählen. Tatsächlich erzielen etwa Andreas Maier und Karl Ove Knausgård – der eine kunstvoll klug, der andere verzweifelt ausgeliefert – mitunter eine Tiefe und Dringlichkeit, die viele noch so schön konstruierte Romane nicht erreichen. Hier leuchtet tatsächlich in der Abschilderung des Wirklichen die Spur des Wahren auf: So ist es, Mensch zu sein, heute. Das packt den Leser, heute.
Aber hat das wesentlich Schöpferische der Literatur nicht einen darüber zielenden Horizont? Ein ÜberIch, das gerade über das Heute hinausweist? Man muss da nicht gleich mit Dostojewski, Shakespeare oder Goethe kommen. Das zeigen auch zeitgenössische Werke etwa von Christoph Ransmayr (demnächst: „Cox – oder: Der Lauf der Zeit“) und Jonathan Franzen (zuletzt: „Unschuld“). Was heißt Leben? Vor diesem schöpferischen Sprung, vor unkontrollierbaren Dynamik kapituliert der autobiografische Autor (was etwa Knausgård auch eingesteht) – und macht diesen Verzicht dann zum Programm. Dabei lebt Kunst doch gerade vom Scheitern an dieser vielleicht größtmöglichen Anmaßung.
Zufall, dass Michel Houellebecq nach seinem Ich-Postulat solche Romane wie „Karte und Gebiet“und „Unterwerfung“geschrieben hat? Nein. Er schreibt sich zwar neckisch in die Geschichten ein – aber er will letztlich doch das Große. Die Ahnung von Wahrheit anstatt der Spur der Wirklichkeit. Das Leben statt sein Leben. Und genau dafür sind Künstler, sind Schriftsteller doch da. Im Unterschied zu Bloggern und privaten Memoiren-Schreibern.
Vom nicht zur Bescheidenheit neigenden Reinhold Messner, der sein Berg-Erleben ja auch zu biografischen Büchern verarbeitete, ist eine Verneigung vor dem Schriftsteller Christoph Ransmayr überliefert. Messner sagte, zwar sei er selbst oben gewesen und beschreibe also, was dort wirklich sei – aber einem solchen Autor wie Ransmayr genüge offenbar ein Spaziergang am Fuß der Berge und der Blick nach oben, um viel mehr zu vermögen: Wahrheit.
Das Erzählen vom Ich in der Ära des Individualismus