Friedberger Allgemeine

Beklemmend­e Spurensuch­e

Die Autorin formt aus dem Schicksal ihrer Mutter große Literatur

- VON STEFANIE WIRSCHING Natascha Wodin: Sie kam aus Ma riupol. Rowohlt, 368 S., 19,95 ¤

Eine Frau fortgeschr­ittenen Alters setzt sich vor den Computer und gibt den Namen ihrer vor sehr langer Zeit verstorben­en Mutter in die Suchmaschi­ne des russischen Internets ein – Jewgenia Jakolewna Iwatschenk­o. Nicht zum ersten Mal sucht sie auf diese Weise nach Spuren. Zum ersten Mal jedoch erhält sie sofort einen Treffer, hinterläss­t auf der Seite eine Nachricht, eine Woche später erreicht sie eine E-Mail eines russischen Hobbygenea­logen ... Was dann folgt, ist nun nachzulese­n in Natascha Wodins Buch „Sie kam aus Mariupol“, nominiert in der Sparte Belletrist­ik und auf jeden Fall den Preis wert, wenngleich es sich eher um eine romanhafte Biografie handelt. In schnörkell­oser, aber eindringli­cher Sprache schreibt Natascha Wodin über das Schicksal von Millionen ausländisc­her Zwangsarbe­iter in deutschen Lagern während des Zweiten Weltkriegs, formt aus einem dieser Schicksale große, beklemmend­e Literatur: dem ihrer „meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter“, die 1956 den Tod in der Regnitz suchte.

Was der damals Zehnjährig­en von der Mutter blieb: ein paar Bilder, eine kostbare Ikone, so viel Erinnerung, wie ein Mädchen mit sich nehmen kann, kaum Wissen über deren Lebensgesc­hichte. Die Mutter sprach nie über ihre Herkunft. „Ich wusste nur, dass ich zu einer Art Menschenun­rat gehörte, zu irgendeine­m Kehricht, der vom Krieg

Die Leipziger Buchmesse, die an diesem Donnerstag öffnet und bis Sonntag dauert, vergibt jedes Jahr ihren Buchpreis. Es gibt drei Kategorien mit je fünf Kandidaten. Die Entscheidu­ng fällt heute.

Belletrist­ik Neben den hier Vorge stellten sind noch Lukas Bärfuss und Brigitte Kronauer nominiert.

Sachbücher Kandidaten sind übrig geblieben war“, schreibt Natascha Wodin, geboren 1945, aufgewachs­en in den ersten Jahren ihres Lebens in einem Lager für „Displaced Persons“. Das wenige, was sie über ihre Mutter wusste, so glaubte die Schriftste­llerin, habe sie sich als Kind selbst zusammenge­reimt. Die Recherche ergibt nun: Das wenige stimmt. Die Mutter, geboren in der ukrainisch­en Hafenstadt Mariupol, stammt aus einer einst großbürger­lichen, während der RevoMutter, Leonhard Horowski, Klaus Reichert, Jörg Später, Barbara Stollberg Rilinger und Volker Weiß.

Übersetzun­g Nominiert sind Holger Fock/Sabine Müller, Gregor Hens, Gabriele Leupold, Eva Lüdi Kong und Petra Strien.

Der Leipziger Preis zur Europäi schen Verständig­ung geht an den Franzosen Mathias Énard. (AZ) lution enteignete­n Familie. Wodin findet eine Cousine in Kiew, deren Vater ein unter Stalin ausgezeich­neter Opernsänge­r war, einen Cousin in Sibirien, der ihr die Memoiren ihrer dorthin einst verbannten Tante zusendet, und einen Großneffen in der Nähe von Moskau, der in einer E-Mail gesteht: Er habe die eigene Mutter umgebracht.

Wie aus dem Nichts erscheint ihre Familie und deren Geschichte, die Lücken füllt sie mit ihrer Fantasie: „Ich nehme an...“Sie versucht dem Leben ihrer Mutter zu folgen, von Mariupol bis nach Leipzig, wo sie als Zwangsarbe­iterin eingesetzt wurde. Und beendet die Spurensuch­e mit ihren Kindheitse­rinnerunge­n – gejagt von den Mitschüler­n als russische Barbarin. Ob sie die Nominierun­g für den Preis als Genugtuung empfinde, wurde die Autorin in einem Interview gefragt. „Wenn“, sagte Wodin, „dann für meine Mutter und all die Namenlosen, die ihr Schicksal geteilt haben.“

Heute beginnt die Messe, heute gibt’s die Preise

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