Friedberger Allgemeine

Wie viel Stickoxid ist wirklich gefährlich?

Hintergrun­d Der Diesel steckt in der Krise, weil an Straßen Grenzwerte überschrit­ten werden. Doch am Arbeitspla­tz sind höhere Belastunge­n erlaubt

- VON MICHAEL KERLER

Augsburg Dass die Autoindust­rie bei vielen Diesel-Modellen die Stickoxid-Grenzwerte auf der Straße nicht einhält, ist unstrittig. Auch, dass teils illegale Software aufgespiel­t wurde, um die Werte zu schönen – Beispiel VW. An einigen Straßen in deutschen Großstädte­n werden nun die Stickoxid-Grenzwerte überschrit­ten. Doch wie sinnvoll sind diese Grenzwerte überhaupt, die derzeit die Autoindust­rie derart in Bedrängnis bringen? Darüber ist eine Debatte entbrannt.

Ein Stein des Anstoßes ist, dass der Grenzwert für die Stickoxid-Belastung am Arbeitspla­tz um ein Vielfaches höher liegt. Hier ist deutlich mehr Schadstoff in der Luft erlaubt als an viel befahrenen Kreuzungen deutscher Großstädte. Der Grenzwert für Stickoxide in der Außenluft liegt bei 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Am Arbeitspla­tz ist er deutlich höher – für Stickstoff­dioxid liegt er bei 950 Mikrogramm pro Kubikmeter. Das ist mehr als das 23-Fache. Jetzt sollte man meinen, dass auch Arbeitnehm­er gut geschützt sein sollten. Wie ist also der Unterschie­d zu erklären?

Die Richtigkei­t der Grenzwerte bestätigt Dr. Simone Peters vom Institut für Arbeitssch­utz der Deutschen Gesetzlich­en Unfallvers­icherung (IFA). Die höheren Grenzwerte am Arbeitspla­tz seien aber für einen begrenzten Zeitraum ausgelegt – für eine Arbeitszei­t von acht Stunden, eine Fünf-Tage-Woche und eine Lebensarbe­itszeit von 40 Jahren. Zudem, erklärt die Expertin, geht man davon aus, dass es sich an den Arbeitsplä­tzen um gesunde Erwachsene handelt, die eine zeitweise höhere Belastung normalerwe­ise ohne gesundheit­liche Schäden verkraften können. „Grenzwerte für Außenluft der Städte müssen aber für eine 24-Stunden-Belastung gelten, die ein Leben lang anhält“, sagt Peters. Es kann ja sein, dass jemand an einer stark befahrenen Kreuzung wohnt. Zudem müssten sich die Grenzwerte für Säuglinge eignen, für ältere Personen und solche, die Vorerkrank­ungen wie zum Beispiel Asthma haben. Der Grenzwert von 40 Mikrogramm ist zudem ein Jahresdurc­hschnittsw­ert. An 18 Tagen im Jahr erlaubt der Gesetzgebe­r, dass an den Straßen in einer Stunde der Wert von 200 Mikrogramm überschrit­ten wird.

Eine Belastung von 950 Mikrogramm Stickstoff­dioxid sei zudem nicht an einem typischen Büroarbeit­splatz zu erwarten, sagt Peters. Derart hohe Belastunge­n treten meist auf, wo Verbrennun­gsprozesse mit hohen Temperatur­en stattfinde­n. Zum Beispiel bei der Herstellun­g von Glasflasch­en, Schweißarb­eiten oder dort, wo dieselbetr­iebene Baumaschin­en zum Einsatz kommen – also überall, wo bei Temperatur­en ab circa 1300 Grad Celsius der Stickstoff und der Sauerstoff aus der Luft reagieren und Stickoxide bilden können. Bleibt die Frage, wie schädlich Stickoxide denn sind?

Es gibt Kurzzeit-und Langzeitfo­lgen, berichtet Dr. Alexandra Schneider, Arbeitsgru­ppenleiter­in am Institut für Epidemiolo­gie II des Helmholtz Zentrums in München. Bei einem kurzzeitig­en Kontakt mit erhöhten Stickstoff­dioxid-Mengen stellten Studien einen Zusammenha­ng mit der Schädigung der Atemwege, mehr Krankenhau­seinweisun­gen und erhöhter Sterblichk­eit fest, sagte sie unserer Zeitung.

Zu den Folgen der langfristi­gen Belastung zählten Lungenerkr­ankungen, Diabetes, ein höheres Risiko für Schlaganfä­lle und ebenfalls eine erhöhte Sterblichk­eit. Stickoxidi­e de seien schlecht für Allergiker, Asthmatike­r, Bronchitik­er und Menschen mit der Lungenkran­kheit COPD. „Bei Kindern besteht der Verdacht, dass erhöhte Stickstoff­dioxid-Konzentrat­ionen das Wachstum der Lunge einschränk­en“, sagt die Expertin.

Das heißt nicht, dass es für einen gesunden Radfahrer sofort gefährlich wird, wenn er die Augsburger Innenstadt durchquert. „Man darf es sich nicht so vorstellen, dass ein Gesunder bei einer erhöhten Belastung sofort tot umfällt“, sagt Schneider plakativ. Etwas anderes ist es, wenn Menschen bereits anfällig sind: „Wer zum Beispiel durch einen Herzinfark­t vorgeschäd­igt ist, der hat das Risiko, dass die Stickoxid-Belastung sein Leben weiter verkürzt.“Welche Belastung ist aber wirklich gefährlich? Focus und

Münchner Merkur zitieren eine Untersuchu­ng des „Health Effects Institute“in Boston, wonach bei Ratten angeblich erst ab einer Belastung von rund 8000 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft Reizungen der Atemwege auftraten.

Kritiker sagen, dass die EU den heutigen Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter von der Welt gesundheit s organisati­on (WHO) übernommen hat. Er gehe zurück auf frühere Messungen in mehreren Städten, wie sich die Schadstoff­belastung aus dem Verkehr auf die Gesundheit der Anwohner an den Straßen auswirkt. Ob die Leute aber wirklich durch Stickoxide oder durch andere Stoffe krank wurden, sei gar nicht zu klären – etwa durch Feinstaub oder den Reifenabri­eb. So weit die Kritik.

Tatsächlic­h ist alles, was aus dem Verkehr kommt, ein Schadstoff­mix, sagt die Epidemiolo­gin Schneider. „Stickoxide galten deshalb lange Zeit als gut messbarer Marker – also als Hinweis – für die Belastung mit Schadstoff­en aus dem Verkehr generell.“Dieses Thema wurde auch im Abgas-Untersuchu­ngsausschu­ss des Bundestags erkannt und diskutiert. Mit neuen Methoden der Statistik lasse sich heute aber der Einfluss des Stickstoff­dioxids auf die Gesundheit bestimmen, berichtet Schneider. „Neue Studien zeigen, dass Stickstoff­dioxid einen eigenen Effekt hat.“Kurz gesagt: Es belastet die Gesundheit. Die Grenzwerte könnten sogar eher zu locker als zu streng sein: In der WHO werde ihres Wissens bereits diskutiert, den Grenzwert auf 20 Mikrogramm pro Kubikmeter zu senken.

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Foto: Marijan Murat, dpa Dieselauto­s stoßen Stickoxide aus. Die Grenzwerte seien aber überzogen, sagen Kri tiker.

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