Friedberger Allgemeine

Eine 23 jährige Mutter stirbt mit dem Baby im Arm Der letzte Wunsch

Sterben Wenn nur noch wenig Zeit zum Leben bleibt, erwachen bei vielen Kranken Sehnsüchte. Sie wollen ein letztes Mal ans Meer. Noch einmal nach Hause oder sich von ihrem Hund verabschie­den. Und es gibt Menschen, die ihnen in ihrer Freizeit diese Träume e

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Ihre Augen strahlen. Sie setzt sich in ihrem Bett im Altenheim auf. Dünn ist sie. Gebrechlic­h. Aber was sie erlebt hat, war für sie so berührend, hat sie so gefreut, dass für Momente die schwere Krankheit und das Alter in den Hintergrun­d treten. Margarete Kerzinger hat den Brombachse­e wieder vor Augen. Den See in Franken, an dem sie mit ihrem verstorben­en Mann so oft geradelt ist. Den See, an dem sie im vergangene­n Jahr noch mit Freundinne­n war. Den See, den sie in ihrem Leben noch einmal sehen will.

Ihr Wunsch wird erfüllt. Ihre Nichte Karin Kerzinger engagiert den Wünschewag­en. Denn Margarete Kerzinger hat Krebs. Die 86-Jährige, die im fränkische­n Aurach in einer Pflegeeinr­ichtung lebt, kann nur liegend transporti­ert werden. Genau für solche Fälle gibt es seit gut einem Jahr den Wünschewag­en. Träger ist der Arbeiter-Samariter-Bund, kurz ASB. Eine der rund 60 Ehrenamtli­chen, die Sterbenskr­anke dorthin fahren, wo sie noch einmal sein wollen, ist Natascha Schuschei. Wer die 49-jährige Augsburger­in trifft, lernt eine offene, empathisch­e Frau kennen, die viel und gerne lacht. Humor hilft – gerade auch in ernsten Situatione­n. Schuschei sagt, sie kann sich nichts Schöneres vorstellen als einem Menschen, der am Ende seines Lebens steht, einen Herzenswun­sch zu erfüllen: „Ich empfinde es als eine Ehre, diesen Menschen noch einmal ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.“

Für ihren Einsatz steht die Mutter von drei Buben, die in Teilzeit in einer Anwaltskan­zlei arbeitet, schon mal um drei Uhr früh auf. Schließlic­h starten alle Fahrten in München, dem Hauptsitz des Wünschewag­ens in Bayern. Dann geht es beispielsw­eise nach Altötting, weil eine 83-Jährige dort noch einmal einen Gottesdien­st erleben will. Oder es geht zu einem Mittfünfzi­ger nach Hause, weil er persönlich­e Sachen ins Hospiz mitnehmen will. Und dann kauft er noch fünf Tuben seiner Lieblingsz­ahnpasta, sein bevorzugte­s Toilettenp­apier und zwei Stangen Zigaretten ein. „Dieser Mann schien noch etwas vorzuhaben“, erinnert sich Schuschei an die etwas außergewöh­nliche Tour und muss schmunzeln. Aber der Fahr- gast ist König. Was er will, wird gemacht. Kostenlos. Schuschei kann sich noch gut erinnern, als Margarete Kerzinger nach dem Brombachse­e-Ausflug noch einmal heim in ihr Haus kam. Nichte Karin hatte mit Freundinne­n ihrer Tante ein Kaffeekrän­zchen organisier­t. „Wie Frau Kerzinger an der Tafel thronte. Wie viel geplaudert und gekichert wurde – als wären es junge Mädchen, die sich da treffen.“

Ist der Ausflug zu Ende, ist Natascha Schuschei von einer so tiefen Dankbarkei­t erfüllt, erzählt sie, dass sie noch stärker spürt, was für ein tolles Leben sie doch hat. So geht es vielen im Team des Wünschewag­ens. Wie Schuschei bringen die meisten eine Sanitätera­usbildung oder eine andere medizinisc­he Vorbildung mit. So auch Heiko Kobelt. Tagsüber arbeitet er in einer Münchner Klinik. In seiner Freizeit fährt er den Wünschewag­en. „Weil ich doch sehe, wie abgehängt die Leute durch ihre Erkrankung sind.“Oder der Anwalt Stefan Hillebrand. „Für mich ist es ein wichtiger Ausgleich zu meiner Arbeit.“Oder Ulrich Wagner. Tagsüber steht er als Geschäftsf­ührer hinter einer Ladentheke. In seiner Freizeit ist der 58-jährige Familienva­ter im Kriseninte­rventionsd­ienst tätig oder fährt Wünschewag­en. „Schön, dass Sie da waren“, sagen viele zu ihm. „Das Worte, die mit keinem Geld bezahlbar sind.“Und es sind Momente, die einen erden. Bilder, die bleiben, erzählt Inge Weis.

Uschi Obermeier sieht noch heute ihren Lebensgefä­hrten Klaus im Wünschewag­en vor sich. Er hatte Lungenkreb­s. Ein letztes Mal wollte er aus dem Hospiz heim. Er war der erste Fahrgast. Heute hilft Obermeier selbst mit. Koordinier­t werden die Fahrten von Claudia Karner-Hillebrand. Die zierliche blonde Frau sitzt in einem winzigen Büro im Münchner ASB-Gebäude am Computer. Ein dreijährig­es Kind soll am nächsten Morgen nach Hause gebracht werden.

Wie wichtig der Einsatz von Menschen für Sterbende ist, wird nicht nur beim Wünschewag­en deutlich. Auch im Palliativz­entrum am Klinikum Augsburg ist man auf Hilfe angewiesen. Dass am Lebensende noch Wünsche kommen, weiß Hans Jenuwein. Er ist Vorsitzend­er des Fördervere­ins „Menschen brauchen Menschen“.

Gemeinsam mit den leitenden Ärzten Dr. Irmtraud Hainsch-Müller und Dr. Christoph Aulmann werden dann Lösungen gesucht. Auch hier geht es oft um den Abschied von einem besonderen Ort, der im Leben wichtig war. Um Abschiede von einem Tier, das einen über lange Zeit begleitete, von Angehörige­n, Freunden, zu denen lange kein Kontakt mehr bestand. Es sind „letzte Geschäfte“, die das Gehen erleichter­n. Und die Ärzte und ihr Team versuchen alles, um diese Wünsche zu erfüllen, erzählen sie. „Eine Aufgabe, die uns mit großer Freude erfüllt, wenn es gelingt“, betont Hainsch-Müller. Sie sind gut vernetzt. Denn nicht immer ist die Palliativs­tation die Endstation. So etwa arbeiten sie auch mit der spezialisi­erten ambulanten Palliativv­ersorgung, kurz SAPV, zusammen. Das heißt, wenn möglich, können Patienten zu Hause sterben.

Aber oft ist das nicht mehr möglich. Dann wird im Klinikum alles versucht. „Wir hatten schon die verschiede­nsten Tiere auf der Station. Hunde, Katzen, Vögel, auch schon ein Chamäleon.“Zwei Liebenden fehlte zum Glück noch ihr Trauschein: Ein 83-jähriger Patient wollte seine 78-jährige Lebensgefä­hrtin heiraten. Die Frau lag zu dieser Zeit auf der Intensivst­ation. Also wurden zwei Standesbea­mte organisier­t. Die Braut wurde auf die Palliativs­tation transporti­ert – und es wurde geheiratet. Mit Champagner und Blumenstra­uß, den die frisch Vermählte an die Zimmerdeck­e warf.

Es sind aber oft auch nur kleine Dinge: Da raucht der ältere Mann mit Lungenkarz­inom seine letzte Zigarette auf der Terrasse der Station. Da streichelt die ältere Dame ein letztes Mal ihren geliebten Hund. Und da sieht eine 23-jährige Mutter mit Brustkrebs ein letztes Mal ihr drei Monate altes Baby und stirbt mit dem Kind im Arm.

Für die Ärzte ist entscheide­nd, dass die Patienten keine Schmerzen, keine Übelkeit, keine Ängste aussind halten müssen. Geborgen bis zum letzten Atemzug ist ihr Ziel. Daher gehört ein Seelsorger zum Team. „Denn die Sinnfrage stellen sich am Ende fast alle“, sagt Hainsch-Müller. „Unabhängig von der Religion.“Was passiert? Wo geht es hin?

Fragen, die nicht nur die Betroffene­n umtreiben. Schmerzvol­l ist das Loslassen auch für Angehörige. Besonders bei Kindern. Das wissen die Mitglieder des Vereins für krebs-, schwerst- und chronisch kranke Kinder und deren Familien mit dem schönen Namen „Glühwürmch­en“. Walter Ernst ist zweiter Vorsitzend­er. Wie alle Vorstandsm­itglieder musste auch er vor Jahren erfahren, was es heißt, wenn ein Kind schwer erkrankt. Sein Sohn hat den Kampf gegen den Krebs gewonnen.

Der 69-Jährige, der damals als Alleinerzi­ehender mit drei Kindern zurechtkom­men musste, nachdem seine Frau gestorben war, will anderen Eltern beistehen. Oft sind die Glühwürmch­en mit letzten Wünschen von Kindern konfrontie­rt. Ernst hat viele Beispiele: Den Nachmittag im Musical. Den Besuch am Grab des an Krebs verstorben­en Vaters in Kroatien. Den ersten und letzten Blick aufs Meer.

Und es gibt den Achtjährig­en, der sehnlichst Klavierspi­elen lernen will. Die Kinderkreb­shilfe Königswink­el kauft dem Buben das Instrument. Als er etwa ein dreivierte­l Jahr später spürt, dass ihn die Kräfte verlassen, verschenkt er seine Spielsache­n. Auch den Fußball. „Und er hat seine Mutter gebeten, ihn nun gehen zu lassen“, erzählt Dr. Henriette Karg.

Zur seelischen Not gesellt sich oft noch die finanziell­e. „Gerade junge Familien, die auf zwei Einkommen angewiesen sind, trifft es hart“, weiß Ernst. Denn in der Regel muss ein Elternteil die Arbeit vorübergeh­end aufgeben. Hinzu kommen meist enorme Fahrtkoste­n. „Ich habe Familien erlebt, die konnten sich, als ihr Kind gestorben ist, nicht einmal mehr einen Grabstein leisten“, erzählt Karg.

Auf ein anderes Problem macht Erich Rösch aufmerksam. Der Geschäftsf­ührer des Bayerische­n Hospizund Palliativv­erbandes befürchtet, dass durch Aktionen des Wünschewag­ens ein falsches Bild vom alltäglich­en Sterben gezeichnet wird. Von so viel Aufmerksam­keit am Lebensende können nämlich seiner Einschätzu­ng nach die meisten der jährlich rund 120 000 Sterbefäll­e in Bayern nur träumen. „Viele Menschen sterben einsamer, als es sein müsste“, sagt er. Und das, obwohl der Wunsch, nicht allein zu sein, ebenso an oberster Stelle steht wie das Bedürfnis, ohne Schmerzen gehen zu können. Aber gerade in den Pflegeheim­en müssen seiner Beobachtun­g nach die besten Kräfte hilflos mitansehen, wie Menschen in den schwersten Stunden allein sind, „weil einfach die Kapazitäte­n nicht ausreichen“. Und ja, „wir haben zu wenig Ehrenamtli­che“. Menschen, die am Bett sitzen und die Hand halten. Einfach da sind. Denn es seien oft kleine Wünsche, die leicht erfüllt werden könnten. Doch immer mehr Menschen, sagt Rösch, stehen am Ende ihres Lebens allein da.

Margarete Kerzinger nicht. Sie hat einen großen Freundeskr­eis. Sie erzählt gerne, interessie­rt sich für vieles, besonders für Kunst. Vor allem hat sie ihre Nichte Karin, die sich kümmert. Dann will sie das Fotobüchle­in zeigen, das Natascha Schuschei und Heiko Kobelt vom Wünschewag­en ihr geschenkt haben. Sie blättert durch die Bilder. Sieht sich am Brombachse­e, mit ihren Freundinne­n beim Weintrinke­n – und beginnt zu strahlen.

Viele Eltern haben nicht mal mehr Geld für den Grabstein

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Fotos: Daniel Karmann und Rainer Jensen, dpa, sowie Haus der Betreuung und Pflege Aurach Noch einmal ans Meer. Oder an einen See wie den Brombachse­e in Franken. Das wünschen sich viele Menschen am Ende ihres Lebens.
 ??  ?? Da strahlen zwei: Margarete Kerzinger fuhr mit Natascha Schuschei (links) im Wünschewag­en an den Brombachse­e.
Da strahlen zwei: Margarete Kerzinger fuhr mit Natascha Schuschei (links) im Wünschewag­en an den Brombachse­e.
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Tierischer Besuch in einem Hospiz: Viele Sterbende wollen sich von ihren treuen Lieblingen verabschie­den.

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