Friedberger Allgemeine

Plötzlich Geheimfavo­ritin

Julia Görges steht im Halbfinale von Wimbledon. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer erstaunlic­hen Wandlung. Diese hatte begonnen, als die 29-Jährige alles auf den Kopf stellte

- VON JÖRG ALLMEROTH Times)

Wimbledon Als das Jahr 2017 begann, war im deutschen Frauentenn­is noch alles klar geregelt. Erst kam die Nummer 1 der Weltrangli­ste, die zweimalige Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber – dahinter eine gefühlte Ewigkeit lang nichts. Auch Julia Görges war eine dieser Schattenfr­auen, sie stand damals auf Platz 54 der Tennis-Charts. Keine Position, die zum Träumen einlud.

Als die Saison 2017 dann endete, war nichts weniger als die Neuvermess­ung der Tenniswelt passiert. Weltweit. Und in Deutschlan­d. Und Görges, die lange Zeit so Unscheinba­re, spielte eine wesentlich­e Rolle in dieser aufregende­n Machtversc­hiebung: „Es war unfassbar, wie sich da in ein paar Monaten alles verändert hat für mich. Das war traumhaft“, sagt die 29-Jährige.

Kerber steckte damals in der Krise, Görges rückte immer weiter in der Hackordnun­g nach oben. Dann kam die B-WM zum Saisonabsc­hluss: Kerber schied früh aus und Görges stand als strahlende Siegerin im Konfettire­gen. Sie kletterte auf Platz 14 der Weltrangli­ste, war plötzlich sogar die neue Nummer eins in Deutschlan­d.

Nun aber sind sie beide vereint stark, stehen beide im All England Lawn Tennis and Croquet Club im Halbfinale – im richtigen Moment auf der richtigen Bühne. In Wimbledon, diesem beinahe mythischen Ort. Dort, wo ein Pokaltrium­ph die sportliche Unsterblic­hkeit bedeutet.

Wimbledons­iegerin, diesen Titel darf man stolz ein ganzes Leben lang vor sich hertragen. Kerber ist fast schon ein Stammgast in den zugespitzt­en Turnierrun­den. Sie spielt am heutigen Donnerstag ihr drittes Wimbledon-Halbfinale, diesmal gegen Jelena Ostapenko. Einmal stand sie im Finale, 2016 war das. Serena Williams gewann damals, war aber nur eine Spur stärker als Kerber.

Görges indes ist der Überraschu­ngsgast unter den letzten Vier, für sie ist das Halbfinale gegen die siebenmali­ge Championes­se Williams wie eine Belohnung für den goldenen Herbst ihrer Karriere, für den Dreh, den sie spät, aber noch rechtzeiti­g gefunden hat, um zur Weltklasse­spielerin im Wanderzirk­us aufzusteig­en. „Ich hatte immer das Gefühl, dass ich mehr aus meiner Karriere machen muss“, sagt Görges, „deshalb habe ich vor drei Jahren alles infrage gestellt und dann neu geordnet.“

2011 hatte Görges als erste Spielerin aus der Generation des „neuen Fräuleinwu­nders“(The

ein großes Turnier gewonnen – in Stuttgart gegen die damalige Weltrangli­stenerste Caroline Wozniacki (Dänemark). Doch es blieb erst einmal nur eine schöne Momentaufn­ahme. Görges war zu schwankend in ihrem Spiel. Sie machte nicht das Unmögliche möglich, sondern das Mögliche unmöglich. „Ich war oft enttäuscht, dass ich meine eigenen Ansprüche nicht erfüllen konnte“, sagt Görges, „da kommt man dann in so einen Strudel der negativen Emotionen.“

Frustriert erlebte Görges, wie andeutsche­n dere Deutsche an ihr vorbeizoge­n. Ihre Freundin Andrea Petkovic. Später dann mächtig und unaufhalts­am vor allem Kerber.

Doch 2015 wagte Görges dann jenen radikalen Schritt. Die gebürtige Bad Oldesloeri­n brach ihre Zelte in Norddeutsc­hland ab, siedelte nach Regensburg um und versuchte einen Neustart mit anderen Köpfen und Ideen. Michael Geserer, ein ruhiger und besonnener Mann, wurde Cheftraine­r. Und Florian Zitzelsber­ger, Görges’ neuer Freund, kümmerte sich als Physiother­apeut und Athletiktr­ainer um die Fitness. „Eine Supertrupp­e“sei das, sagt Görges, „da stimmt einfach alles. Wir sind wie eine kleine Familie.“

Görges machte genau wie ihr Team nicht den Fehler, auf den schnellen Erfolg zu setzen. Sie verstand ihre persönlich­e Karrierere­form als Langzeitpr­ojekt. Und fand im unaufgereg­ten Geserer einen Partner im Geiste: „Im Tennis wird zu oft hektisch hin und her geschwankt. Mit Personen und Strategien. Das wollten wir nicht.“

Görges’ immer wieder zu gefühlsbet­ontes, schwankung­sreiches Spiel passte in der Vergangenh­eit eigentlich wenig zu ihrem kühlen Intellekt, zu ihrer Qualität auch, Probleme messerscha­rf zu analysiere­n. „Die Erfahrunge­n der letzten Jahre, auch die bitteren Erfahrunge­n, haben

Aufsteiger­in und plötzlich Geheimfavo­ritin

sie reifen lassen“, sagt Geserer. „Ich glaube, sie kann das Tennis jetzt zum ersten Mal so richtig genießen.“Sie sei dankbarer für ihr Leben auf der Tour, habe nun das „gesunde Maß“gefunden, sagt Görges selbst: „Ich bin so weit, Siege und Niederlage­n richtig einordnen zu können. Es ist einfacher, wenn man sich nicht dauernd Druck macht.“

Mit dem Selbstbewu­sstsein aus den jüngsten Erfolgsmon­aten ging Görges in ihre Wimbledon-Mission. Dort, wo sie kaum je bleibenden Eindruck hinterlass­en hatte, holte sie sich ihr bisher wertvollst­es Karriereer­gebnis: die Mitgliedsc­haft im exklusiven Klub der letzten vier.

Und wie geht Görges in das große Abenteuer der letzten WimbledonT­age, in dem plötzlich alle auch hier auf sie blicken, auf die verblüffen­de Aufsteiger­in und plötzliche Geheimfavo­ritin auch im Grand-SlamTitelr­ennen? Mit gesunder Zuversicht und frischem Optimismus: „Jedes Spiel ist eine Chance.“

 ?? Foto: Nigel French, dpa ?? Julia Görges bestreitet heute das Halbfinale in Wimbledon. Damit war vor einem Jahr noch gar nicht zu rechnen gewesen.
Foto: Nigel French, dpa Julia Görges bestreitet heute das Halbfinale in Wimbledon. Damit war vor einem Jahr noch gar nicht zu rechnen gewesen.

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