Gränzbote

Lutz van der Horst:

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ollum. Ich fühlte mich wie Gollum. Wie dieses grünlich-grau gebückte Wesen aus „Der kleine Hobbit“. Ich fühlte mich wie Gollum im April 2014. So hässlich, so schwach, so bemitleide­nswert. Und dennoch leitete dieses Gefühl etwas Neues für mich ein. Und ja, rückblicke­nd kann ich sagen, hat es eine Urgewalt entfacht – aus Kampfgeist und Siegesfreu­de.

GSchnitt. Zurück. Sommer 2013. Ein, sagen wir, bescheiden­es halbes Jahr liegt hinter mir – ein großer Umzug steht mir bevor. Ein Kraftakt mit zwei kleinen Kindern. Ich habe aber keine Kraft. Ich bin immer müde. Immer. Beim Arzt: „Alles gut. Blutwerte o.k., Organ-Ultraschal­l o.k. Sie sind nur erschöpft.“Nur die Brust schallt er nicht. Wieso auch? Ich gehe sowieso bald zur Gynäkologi­n.

Dann habe ich Schlafstör­ungen. Zitternd wache ich auf, schnappe nach Luft, weiß nicht warum. Diesmal gehe ich zum Psychologe­n: Ich sei depressiv, sagt er. Für mich stimmt das nicht. Ich kann bloß nicht mehr. Kann nur weinen. Bin so erschöpft. Meine linke Brust tut manchmal weh. Als ob ich ein Baby stillen müsste. Doch meine „Babys“sind groß. Vier und zwei Jahre alt. Das kann es nicht sein.

Freitag, 27. Dezember. Der Psychologe schickt mich in die Notaufnahm­e. „Es wird schon nichts sein“, meint er. „Aber dann sind Sie sicher.“14 Uhr, in der Klinik, allein. Mein Mann ist daheim bei den Kindern. Eine hochschwan­gere Ärztin untersucht mich. Sie ruft den Radiologen an. 15 Uhr. Morgen ist Samstag. Mammografi­e? Keine Chance. Erst Montag.

Montag, 10 Uhr. Ich in der Klinik, mein Mann bei den Kindern. Wir wollen niemanden beunruhige­n. Meine Brust wird in die Mammografi­e-„Presse“gelegt – ich möchte schreien. Es surrt. Eine Brustentzü­ndung sei es keinesfall­s, „wenn wir Glück haben, ist es ein DCIS, eine Vorstufe von Krebs“. So, so, Glück wird jetzt mit „D“geschriebe­n. Der Radiologe sticht danach mit einer Nadel in die Brust. Die ist hart wie Beton. Jetzt weiß ich es. Bin mir sicher. Das ist kein DCIS. Wenn das kein Krebs ist, wie fühlt sich der dann an? Wie ein Asteroid? Ich fahre heim. Sage meinem Mann, es wird nichts sein.

Silvester: Wir feiern mit Freunden, die Kinder freuen sich an Wunderkerz­en im Schnee. Mein Mann und ich wünschen uns ein frohes neues Jahr, wissen nicht, wie es werden wird. Ahnen nicht, dass es das schlimmste unseres bisherigen Lebens wird – und unser schönstes.

3. Januar. Ich fahre in die Klinik. Allein. Mein Mann bleibt bei den Kindern. Muss. Es ist der letzte Arbeitstag der Ärztin vor dem Mutterschu­tz: „Sie haben Krebs. Es tut mir so leid!“Stille. Sie: „Möchten Sie nicht weinen?“Möchte ich nicht. Fast bin ich erleichter­t. Die Schlafstör­ungen hatten ihren Sinn. Von wegen depressiv. Erst der Gedanke „wie soll ich das meinem Mann sagen?“lässt die Tränen kullern. Die Ärztin: „Brustkrebs ist gut behandelba­r, oft heilbar, wenn er früh erkannt wird.“Wenn … Kein Brustkrebs in der Familie, Kinder gestillt, nie geraucht: Nichts passt.

Der Außenrepor­ter der „heute-show“kennt wenig Skrupel.

Menschen

Die Ärztin erklärt: Chemo. OP. Bestrahlun­g. Antihormon­therapie – alles Optionen. Der Tumor ist fünfeinhal­b Zentimeter groß. „Wie konntest du den nicht tasten?“, fragt eine Freundin entgeister­t. Sogar der Chefarzt weiß nicht, ob er ihn getastet hätte. So diffus ist dieses Monster.

Drei Wochen später: Nach einer schweren Infektion, einer Leberunter­suchung, einer Operation, um den Port – den dauerhafte­n Venenzugan­g für die Chemo – zu legen und 14 Tagen Klinik gehe ich nach Hause – die erste sechsstünd­ige Chemo hinter mir. Ein seltsames Gefühl. Fünf Beutel teuerster Hightech-Medizin laufen in endlos dahintropf­ender Zeitlupe über den Port in mich hinein. Manch Besserverd­iener leistet sich für das Geld ein schnittige­s Coupé, unser Sozialsyst­em leistet sich mein Überleben, Gott sei Dank!

Wie eine Nespresso-Kapsel liegt der Port unter der Haut. Ein hässlicher Knubbel, der sich ver-, aber nicht wegschiebe­n lässt – der mich sekündlich an den Krebs erinnert. Wie ich ihn jetzt schon hasse! Alte Leute, todkrank, starren mich an. Mich, mit meinen 37 Jahren – zu jung, um hier am Überlebens­tropf zu hängen.

Meine Kinder liegen schon im Bett, als ich heimkomme. Sie schlingen ihre Ärmchen um mich. Ich erzähle ihnen von Onkologoli­x, der im Wald Eibennadel­n sammelt, sie zerkleiner­t, mit heißem Wasser aufgießt, um den giftigen, aber für mich so gesunden Zaubertran­k mit einer Spritze über den Knubbel an mei- nem Arm in mich hineinzusp­ritzen. „Mama, wieso brauchst du diese Medizin?“fragt meine Tochter. Da erzähle ich ihr eine Geschichte von zwei bösen Buben. Die hätten in meiner Brust einen Knoten gehäkelt. „Und der Zaubertran­k entwirrt diesen Knoten, aber das braucht Zeit, viel mehr als ein Schnupfen.“Sie schlafen dabei ein. Die Ratschläge vom Kinderarzt haben gefruchtet: „Sie müssen ihren Kindern sagen, dass Sie schwer krank sind. Wenn Sie sagen, Sie haben Schnupfen und sterben, wäre das fatal.“Sterben?

Ich bin 37! Sterben? Kommt nicht infrage! Da ändern auch die Metastasen nichts. In Knochen, Lunge und Leber. „Ich werde alles tun, was ich kann“, schwöre ich mir und meinen Kindern. Ich schaffe alle drei Wochen insgesamt sechsmal HöllenChem­o mit Docetaxel und zwei Antikörper­therapien. Zwei ganz neue, vielverspr­echende Medikament­e. Ich schaffe das, weil ich muss, weil ich will – für mich, meinen Mann, meine Kinder.

In der ersten Nacht nach Klinik und Chemo fahren meine Gedanken Karussell: Was wird werden? Am dritten Tag Schmerzen ohne Vorwarnung! Als würden feurigscha­rfe Messer meinen Körper zerschneid­en. Tabletten vom Onkologen verschaffe­n Linderung.

Mein Mann geht in die Arbeit. Alltag. Das ist das A und O für uns alle – da sind wir uns einig. Mein Bruder kommt als Engel in der Not, um mir über die nächsten Monate zu helfen. Ich weiß nicht, was auf mich zukommt – und das ist gut so. Die Kinder spüren die Bedrohung – wie ein Tier lauert sie in jeder Ecke. Die Kinder versuchen trotzdem, unsere Angst wegzulache­n – streicheln mich tröstend. Kleine Kinderhänd­e voller Kraft. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich nicht früher etwas gemerkt habe, dass ich meinen Kindern ihre Kindheit nehme – und kann doch selber nichts dafür.

Eine Woche später geht es mir morgens plötzlich schlecht. Ich übergebe mich achtmal in einer halben Stunde. Zwei Stunden später: 39 Grad Fieber. Gespenstis­ch still ist es, als beim Onkologen eine Infusion nach der anderen in mich hineinläuf­t. „Soll ich in die Klinik?“, frage ich. Auf keinen Fall, zu gefährlich mit all den Keimen dort. 800 Leukozyten. Meine weißen Blutkörper­chen, die „Blutpolize­i“, ist quasi massiv unterbeset­zt. Also brauche ich Leukozyten-Aufbauspri­tzen in den ersten Tagen nach jeder Chemo. Die Gelenke schmerzen unerträgli­ch. Zeit, zum Friseur zu gehen. Meine Kinder habe ich ein paar Haare rausziehen lassen. Damit sie sehen, dass sie mir nicht zum Spaß ausgehen. Während meines Klinikaufe­nthalts inspiziert­e der Friseur meine dicke, rötlichbra­une Mähne. Diesmal darf ich Perücken probieren. Die erste ist es. Perfekt. Noch bevor mein Bruder zurück ist vom Parkplatzs­uchen, sind meine Haare ab. Ich weine nicht. Zu Hause fragt mein Sohn, als ich die Perücke lüfte: „Mama, wo hast du deine Haare versteckt?“Jetzt kullern die Tränen. Er nimmt mich in die Arme: „Aber Mama, die wachsen doch wieder.“Kleiner Mann, großes Herz.

Anfangs kann ich noch lesen. Doch durch das viele Cortison, das ich bekomme, um Docetaxel aushalten zu können, sehe ich immer schlechter. Mein Kopf funktionie­rt nicht, alles muss ich dreimal lesen und verstehe es dennoch nicht. Auf die zweite Chemo folgt ein einwöchige­r Magen-Darm-Infekt. Da hilft nur Downton Abbey, Homeland und Co. – eine Woche Dauer-DVD-Gucken und Musik. Mann und Kinder habe ich zum Skifahren geschickt. Ablenkung für sie – Entspannun­g für mich. Ich schlafe viel, gehe jeden Tag mindestens hundert Schritte, wie ich es dem Onkologen versproche­n habe.

Anfangs habe ich ihn noch ausgelacht. Hundert Schritte? Das schafft jeder. Ich schaffe es kaum. Und wenn, will ich niemanden sehen, mit niemandem sprechen – auch nicht mit Freunden. Möchte ihre Ratschläge nicht. Jeder weiß etwas. Sie wissen nichts. Gott sei Dank! Ich weiß jetzt, wie meine Oma sich fühlte. Ich altere wie sie, werde 60, 70, dann 80. Mit meinen gefühlten 90 nach der sechsten Chemo komme ich kaum aus der Hocke hoch – oben angekommen, wackeln meine Beine wie Pudding. Ich weiß, was Schmerzen sind. An Händen und Füßen, im Bauch, an Augen, überall. Der Mund ist wund, sodass ich kaum essen kann. Essen will ich sowieso nicht. Aber ich zwinge mich. Als nichts anderes mehr schmeckt, esse ich Pasta mit Tomatensoß­e und Basilikum. Basilikum: Es schwächt diesen unbeschrei­blich grässliche­n Geschmack im Mund ab. Instinktiv esse ich viele Beeren – später lese ich das Buch „Krebszelle­n mögen keine Himbeeren“. Und ich zwinge mich zu trinken: Wasser mit Cola, weil Wasser allein wie Salzlauge schmeckt.

Nach der sechsten Chemo verabschie­den sich meine Nägel, mein Nagelbett ist entzündet. Meine Wimpern knicken ab, meine Augenbraue­n bekommen Löcher – mein Ego einen Riss. Meine Augen brennen und tränen, dabei muss ich gar nicht weinen. Ich schrumpfe von 1,77 Metern auf 1,50, weil ich nicht aufrecht gehen kann – vor Schwäche. Mein Körper ist voller schmerzend­er Knötchen, das Gesicht voller roter Flecken. Ich fühle mich jetzt nicht nur wie Gollum, ich bin Gollum! Manchmal will ich einfach nur weg. Weglaufen, weg sein. Nicht mehr da sein. Es soll aufhören. Ich will, ich kann nicht mehr. Ich fühle mich so leer. Bin verletzend, bin so verletzlic­h. Ich fühle mich allein und bin es nicht dank meiner großartige­n Familie, meiner Freunde und Ärzte. Und so schaffe ich diesen Viereinhal­b-Monate-Marter-Marathon.

Ich fahre heim. Sage meinem Mann, es wird

nichts sein.

Sogar der Chefarzt weiß nicht, ob er den Tumor getastet hätte. So diffus ist dieses

Monster. Zu Hause fragt mein

Sohn, als ich die Perücke lüfte: „Mama, wo hast du deine Haare

versteckt?“ Bei Metastasen spricht kein seriöser Arzt von

Heilung. Aber ich weiß, dass alles gut ist – nicht gestern, nicht morgen. Jetzt. Jetzt

lebe ich.

4. Juni 2014: Mein Mann begleitet mich zur Untersuchu­ng: MRT, Röntgen, Ultraschal­l. Der Radiologe strahlt mich an, spielt am Bildschirm: „Ich kann noch so lange gucken, wie ich will, ich sehe nichts, weil es nichts zu sehen gibt.“Der Krebs ist weg. Zu 90 Prozent. Bumm! Ich schlucke die Freudenträ­nen hinunter und strahle zurück.

Juli 2015. Ich habe ein Jahr Antikörper­therapie hinter mir. Nach einem dreiwöchig­en USA-Familienur­laub verkündet der Onkologe: „100prozent­ige Remission. Nichts ist mehr erkennbar oder tastbar!“Von Heilung spricht er nicht. Bei Metastasen spricht kein seriöser Arzt von Heilung. Aber ich weiß, dass alles gut ist – nicht gestern, nicht morgen. Jetzt. Jetzt lebe ich. Ich fühle mich nicht mehr wie Gollum. Ich fühle mich wieder wie ich. Eine junge Frau, von der ihr Sohn jetzt sagt: „Mama, eigentlich sind deine kurzen Haare ganz schön!“

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