Gränzbote

NSU: Opfer-Angehörige verklagen Staat

Morde des rechtsextr­emen NSU-Trios beschäftig­en jetzt auch ein Zivilgeric­ht

- Von Christoph Lemmer

MÜNCHEN (dpa) - Während sich der NSU-Prozess in München nach vier Jahren langsam dem Ende nähert, wird in Nürnberg ein zweites Verfahren im Zusammenha­ng mit der rassistisc­h motivierte­n Mordserie vorbereite­t. Zwei Familien haben den Staat auf Schadeners­atz verklagt – Angehörige der beiden NSU-Mordopfer Enver Simsek und Ismail Yasar, die mutmaßlich beide in Nürnberg von den Terroriste­n Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen wurden.

Einer der Kläger ist Abdulkerim Simsek. Er war noch ein Kind, als sein Vater am 9. September 2000 ermordet wurde. Ein Bild habe sich seitdem in seinem Gedächtnis festgesetz­t: „Wie mein Vater schwer verletzt auf der Intensivst­ation im Krankenhau­s lag, mit den Schussverl­etzungen“, schildert er der Deutschen Presse-Agentur. „Wie man uns gesagt hat, dass er sterben wird.“

Schon zu Jahresbegi­nn hat Simsek gemeinsam mit seiner Mutter und seiner Schwester vor dem Landgerich­t Nürnberg die Klage gegen den Staat eingereich­t, genauer: gegen den Freistaat Bayern, den Freistaat Thüringen und die Bundesrepu­blik Deutschlan­d. Es geht um 50 000 Euro für jedes Familienmi­tglied. Dasselbe fordert die Familie Yasar. Das Nürnberger Gericht bestätigt auf Anfrage, dass beide Klagen „anhängig“sind.

„Erst haben Nazis unser Leben zerstört, weil der Staat uns nicht schützen konnte oder wollte“, begründet Simsek seinen Schritt. „Und dann hat uns der Staat noch einmal verraten“, sagt er und meint damit die Polizisten, die seine Familie verdächtig­ten und seiner Mutter vorgaukelt­en, sein Vater habe ein Doppellebe­n mit einer Geliebten geführt – frei erfunden, wie sich herausstel­lte und inzwischen im Aktenbesta­nd des Münchner NSU-Prozesses nachzulese­n ist.

Beide Schadeners­atzklagen kommen allerdings nur langsam voran. Im Fall Yasar erbitten die drei staatliche­n Beklagten „seit mehreren Monaten immer wieder Fristverlä­ngerung für ihre Stellungna­hmen“, sagt Rechtsanwa­lt Mehmet Daimagüler, der beide Familien vertritt. Das sei aber auch verständli­ch, „weil der Prozesssto­ff äußerst umfangreic­h ist“. Im Fall Simsek hat das Gericht die Klage noch nicht zugestellt, weil der Vorschuss für die Gerichtsko­sten noch nicht vollständi­g beglichen sei, teilt ein Gerichtssp­recher mit.

Daimagüler wirft in den Klageschri­ften staatliche­n Stellen vor, sie hätten das untergetau­chte NSU-Trio – Mundlos, Böhnhardt und Beate Zschäpe – im Jahr 1998, spätestens aber 2000 verhaften können. Das hätten die Behörden aber versäumt. Außerdem habe der Staat mehrere Hunderttau­send Euro an V-Leute ausbezahlt, die mit dem Geld die Terroriste­n unterstütz­t hätten. Nach den Morden wiederum hätten die Ermittler die Opferfamil­ien oder deren Umfeld verdächtig­t. „Unsere Klage stützt sich auf die Erkenntnis­se zahlreiche­r Untersuchu­ngen, etwa von parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschü­ssen und natürlich auch aus der Beweisaufn­ahme im NSU-Prozess“, sagt Daimagüler.

Die beiden Klagen der Familien Simsek und Yasar werden voraussich­tlich nicht die einzigen bleiben. Auch ein Angehörige­r des in Rostock von Mundlos und Böhnhardt ermordeten Mehmet Turgut hat seinen Anwalt, Bernd Behnke, mit einer Klage beauftragt. Behnke sagte, er warte zunächst das Ende des NSU-Prozesses ab. Eine Amtshaftun­gsklage vor einem deutschen Gericht schätzt er als „sehr schwierig“ein.

„Aber“, so Behnke, „es gibt auch die Möglichkei­t, vor ein ausländisc­hes Gericht zu ziehen und dort den deutschen Staat zu verklagen.“Er denke dabei an ein türkisches Gericht, in Istanbul oder Ankara. Auch Daimagüler plant schon weiter: „Wir werden notfalls alle Instanzen ausschöpfe­n.“

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FOTO: DPA Auch die Familie Simsek klagt gegen den Staat.

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