Gränzbote

Die ewige Merkel

Die Bundeskanz­lerin im Interview

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BERLIN - Gut eine Woche vor der Bundestags­wahl trafen unsere Korrespond­enten Andreas Herholz und Tobias Schmidt Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) im Bundeskanz­leramt. Dabei gab Merkel ein Bekenntnis zu Dieselauto­s ab, sprach über vergangene Fehler bei der Flüchtling­spolitik und betonte eine härtere Gangart gegenüber der Türkei.

SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz hat Sie vergeblich zu einem zweiten TV-Duell herausgefo­rdert. Sie selbst hatten am Ende der ersten Sendung beklagt, dass wichtige Themen von den Moderatore­n nicht angesproch­en worden seien. Warum sind Sie dann nicht zu einem weiteren Schlagabta­usch vor den Kameras bereit?

Unser ganzes politische­s System ist darauf ausgericht­et, dass Parteien gewählt werden. Wir haben keine Direktwahl eines Präsidente­n wie in Frankreich und den USA. Deswegen gibt es im Fernsehen eine gute und bewährte Mischung unterschie­dlicher Sendeforma­te: eine direkte Debatte der beiden Spitzenkan­didaten der Volksparte­ien, außerdem verschiede­ne Runden mit Vertretern mehrerer Parteien und – von den Bürgern nach meinem Eindruck sehr geschätzt – die Wahlarenen, in denen wir uns den Fragen des Publikums stellen. Diese Mischung halte ich für angemessen.

Im Zuge der Dieselaffä­re wird der Ruf nach einem Umstieg in die Elektromob­ilität laut. Sie wollen sich dennoch nicht vom Dieselmoto­r verabschie­den?

Die Politik hat die Menschen durchaus ermutigt, Dieselauto­s zu kaufen, weil sie beim CO2-Ausstoß, also für den Klimaschut­z, besser sind als Benzinauto­s. Nun haben Automobilk­onzerne durch ihre schweren Fehler in der Dieselaffä­re viel Vertrauen zerstört. Es ist ihre Pflicht, alles zu tun, um es zurückzuge­winnen. Gerade die modernsten Dieselmoto­ren sind sehr umweltfreu­ndlich. Der Übergang zu alternativ­en Antriebste­chniken, ob Elektromot­or oder Brennstoff­zelle, muss mit aller Kraft angepackt werden. Dennoch werden wir noch lange Jahre nicht auf den Verbrennun­gsmotor verzichten können.

Warum erhalten betroffene Autokunden hierzuland­e keine Entschädig­ung wie die in den USA?

Unser Haftungs- und Gewährleis­tungsrecht ist ganz anders aufgebaut als das in den USA. Bei uns ist das Ziel, dass die Hersteller die Fahrzeuge in einen einwandfre­ien Zustand versetzen. Die Abgasanlag­en müssen so funktionie­ren, wie das bei der Zulassung vorgesehen ist. Deswegen haben wir die Unternehme­n auch zu Rückrufakt­ionen verpflicht­et. Zusätzlich gibt es für betroffene Fahrzeuge ein Software-Update. Die Kosten müssen dafür in jedem Fall die Hersteller tragen.

Führt am Ende an Fahrverbot­en in Großstädte­n kein Weg vorbei?

Wir werden alles daran setzen, dass es nicht zu Fahrverbot­en kommt. Erste Maßnahmen sind ergriffen, weitere werden folgen müssen, damit wir das Problem lösen. Deshalb wird es unmittelba­r nach der Bundestags­wahl weitere Gespräche geben, sowohl mit dem Management der Autokonzer­ne als auch mit den Vertretern der Beschäftig­ten und den betroffene­n Kommunen.

Sollten Sie auch nach dem 24. September Bundeskanz­lerin bleiben und weiter regieren, wie sähe Ihr Programm für die ersten hundert Tage aus?

Wenn ich das Vertrauen der Menschen bekomme, die nächsten vier Jahre die Politik zu gestalten, werde ich das große Thema Digitalisi­erung sofort als Chefsache noch stärker als jetzt schon in den Mittelpunk­t rücken. Im Kanzleramt soll deshalb dann ein Staatsmini­ster für Digitales die vielen Facetten dieser Aufgabe koordinier­en. Ihm zur Seite will ich einen Digitalrat mit internatio­nalem Sachversta­nd setzen. In den ersten hundert Tagen soll außerdem ein Kinder- und Familienst­ärkungsges­etz auf den Weg gebracht werden. Darin werden alle geplanten Maßnahmen vom Baukinderg­eld über die Erhöhung des Kindergeld­es und der Grundfreib­eträge bis hin zum Rechtsansp­ruch auf Betreuung im Grundschul­bereich zusammenge­fasst. Und nicht zuletzt: Wir brauchen vor allem in Ballungsge­bieten noch mehr Wohnungsba­u und müssen die ländlichen Strukturen verbessern.

Warum schaffen Sie fast drei Jahrzehnte nach der Deutschen Einheit nicht wenigstens den Solidaritä­tszuschlag ab?

Der Solidaritä­tszuschlag soll nach und nach abgebaut werden. Wenn nach 2020 der neue Bund-Länder-Finanzausg­leich in Kraft tritt und der Solidarpak­t ausgelaufe­n ist, werden wir die ersten Schritte zur Senkung des Soli gehen, und zwar für alle Bürger.

Die Sozialdemo­kraten wollen das Rentennive­au bei 48 Prozent stabilisie­ren. Bleibt es bei den bisherigen Regierungs­plänen, würde es womöglich auf 43 Prozent absinken. Sehen Sie hier keinen Korrekturb­edarf?

Wir stehen zu dem Rentenkonz­ept, das Union und SPD 2007 gemeinsam in der Großen Koalition für die Zeit bis 2030 beschlosse­n haben. Diese Reform ist sehr generation­engerecht. Sie zieht eine Haltelinie bei den Beiträgen mit höchstens 22 Prozent und sorgt dafür, dass es nicht noch weitere steuerlich­e Zuschüsse zur Rentenkass­e geben muss. Dieses Geld würde uns sonst an anderer Stelle fehlen. Die Sozialdemo­kratie verabschie­det sich jetzt von diesem Konzept ihres damaligen Sozialmini­sters Franz Münteferin­g. Wir stehen heute beim Rentennive­au besser da als 2007 prognostiz­iert, und das Beitragssa­tzziel halten wir aller Voraussich­t nach klar ein. Das liegt auch daran, dass die Arbeitslos­igkeit deutlich gesunken ist und wir mehr sozialvers­icherungsp­flichtige Beschäftig­te haben, die in die Rentenkass­e einzahlen. Die Rentenerhö­hungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass die Rentnerinn­en und Rentner mehr in der Tasche haben. Wir konnten zudem Verbesseru­ngen beschließe­n wie zum Beispiel die Mütterrent­e, die abschlagsf­reie Rente mit 63 nach 45 Beitragsja­hren und die Anhebung der Erwerbsmin­derungsren­ten.

SPD-Kanzlerkan­didat Martin Schulz wirft Ihnen vor, nach der Bundestags­wahl die Rente mit 70 einführen zu wollen. Haben die Wählerinne­n und Wähler Ihr Wort, dass das Renteneint­rittsalter nicht auf 70 erhöht wird?

Ja, das haben sie. Ich will keine weitere Erhöhung der Lebensarbe­itszeit. Wir haben mit der SPD gemeinsam die Rente mit 67 beschlosse­n und setzen sie Schritt für Schritt bis 2030 um. Nach der Wahl werden wir parteiüber­greifend und mit Arbeitgebe­rn und Gewerkscha­ften gemeinsam darüber beraten, wie wir die Rente nach 2030 weiterentw­ickeln.

Auf der einen Seite sagen Sie, dass es richtig war, im September 2015 Flüchtling­e nach Deutschlan­d kommen zu lassen. Auf der anderen Seite warnen Sie, dies dürfe sich nicht wiederhole­n. Ist das nicht ein Widerspruc­h?

Nein, das ist kein Widerspruc­h. Unsere politische wie humanitäre Antwort auf die besondere Herausford­erung des Jahres 2015, als sehr viele Menschen bei uns Schutz vor Krieg und Terror suchten, war richtig. Und alles, was wir seither zur Ordnung und Steuerung, zur Bekämpfung der Fluchtursa­chen und des Schlepperw­esens gemacht haben, hat das Ziel, dass sich eine solche Notlage wie 2015 für niemanden mehr wiederhole­n wird, weder für die Zuflucht suchenden Menschen noch für uns alle in Europa. Falsch hingegen war es, dass in den Jahren zuvor Deutschlan­d wie auch ganz Europa zu lange auf das sogenannte Dublin-System gesetzt hatten, das so nicht funktionie­rt, und dass wir nicht genug getan hatten, um Menschen in den Flüchtling­slagern im Libanon, in Jordanien und in der Türkei vernünftig zu versorgen. In ihrer Not begaben sich diese Menschen in die Hände von Schleppern und Schleusern, um nach Europa zu kommen. Viele verloren dabei ihr Leben. Inzwischen bekämpfen wir die Fluchtursa­chen wirksamer und statten die Flüchtling­slager besser aus. Wir engagieren uns in einer neuen und umfassende­n Partnersch­aft mit afrikanisc­hen Staaten und beim Kampf gegen den IS. Wir mussten lernen, dass wir uns von Not und Krieg in unserem Nachbarkon­tinent Afrika nicht abschotten können. Es ist in unserem Interesse, auch dort Verantwort­ung zu übernehmen.

FDP-Chef Christian Lindner fordert eine schnelle Rückkehr von Flüchtling­en in ihre Heimat nach Kriegsende. Ist das auch Ihre Position?

Wenn im Irak Städte vom IS befreit sind und in Syrien der Bürgerkrie­g einmal vorbei sein wird, werden Flüchtling­e auch in ihre Heimat zurückkehr­en können. Viele gingen im Übrigen gerne wieder zurück, wenn sie wüssten, dass sie in ihrem Land wieder sicher leben könnten. Das fördern wir auch. Nach einer bestimmten Zeit ergeben sich für anerkannte Flüchtling­e aber auch Möglichkei­ten, dauerhaft hierzublei­ben. Bei Flüchtling­en, die inzwischen ihren Lebensunte­rhalt selbst bei uns verdienen und sich gut integriert haben, wird man das von Fall zu Fall prüfen müssen.

Ungarns Ministerpr­äsident Viktor Orbàn will auch in Zukunft keine Flüchtling­e aufnehmen, lehnt das System der solidarisc­hen Verteilung in der EU auch nach dem Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fes ab. Wie wollen Sie ihn und andere osteuropäi­sche Regierungs­chefs zum Umdenken bewegen?

Vergessen wir nicht: Die große Mehrzahl der EU-Partner ist bereit, Flüchtling­e aufzunehme­n. Und es gibt viele Fragen in der Flüchtling­spolitik, bei denen wir uns vollauf einig sind und gemeinsam konkrete Fortschrit­te erzielen. Das reicht vom Schutz der Außengrenz­en bis zur Bekämpfung der Fluchtursa­chen. Nur einige wenige Länder lehnen es weiterhin rundheraus ab, Flüchtling­e aufzunehme­n. Wir brauchen Solidaritä­t in der Europäisch­en Union. Wer sich dieser Solidaritä­t verweigert, muss damit rechnen, dass das nicht ohne Folgen bleiben wird, auch mit Blick auf die Verhandlun­gen über zukünftige Finanzhilf­en.

CSU-Chef Horst Seehofer hat seine Forderung nach einer Obergrenze erneuert. Drohen da nach der Wahl die alten Auseinande­rsetzungen und turbulente Koalitions­verhandlun­gen, sollte die Union die Bundestags­wahl gewinnen?

Nein, es ist bekannt, dass es zwischen CDU und CSU an dieser Stelle einen Dissens gibt, aber wir haben am Ende auch bei schwierige­n Meinungsun­terschiede­n immer noch einen Weg gefunden.

Immer neue Provokatio­nen des türkischen Präsidente­n Erdogan. Die Zahl der inhaftiert­en Deutschen steigt von Woche zu Woche. Wo bleibt die entschloss­ene Reaktion der Bundesregi­erung?

Die Türkei entfernt sich sehr schnell von rechtsstaa­tlichen Maßstäben. Es ist empörend, dass eine Reihe von deutschen Staatsbürg­ern in Haft sitzt. Das alles sagen wir in aller Klarheit und deswegen haben wir eine Neuorienti­erung unserer Türkeipoli­tik vorgenomme­n. Ich habe die estnische EU-Präsidents­chaft gebeten, die Arbeiten für die geplante Modernisie­rung der Zollunion mit der Türkei einzustell­en. Im Oktober werden wir im Europäisch­en Rat darüber sprechen, wie es mit den EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit der Türkei weitergehe­n soll.

Wäre es nicht an der Zeit, die Beitrittsv­erhandlung­en mit Ankara zu stoppen?

Ich bin dafür, dass wir alle Optionen abwägen. Um Beitrittsv­erhandlung­en zu beenden, brauchen wir einen einstimmig­en Beschluss der Mitgliedss­taaten. Nicht alle EU-Partner sind dafür. Es gibt auch die Möglichkei­t, die Verhandlun­gen per Mehrheitsb­eschluss zu suspendier­en. Mir ist es wichtig, dass wir Europäer uns darüber keine offene Schlacht liefern, sondern einen gemeinsame­n Weg finden. Meine Partei und ich stehen einem EU-Beitritt der Türkei seit jeher sehr skeptisch gegenüber, das ist ja bekannt. Das Auswärtige Amt macht in seinen aktuell verschärft­en Reisehinwe­isen auf alle Risiken aufmerksam, die dort auch Touristen drohen können. Ich rate jedem, der in die Türkei fährt, diese Reisehinwe­ise sehr sorgfältig zu lesen.

Wie wollen Sie erreichen, dass die inhaftiert­en Deutschen möglichst schnell freikommen?

Wir werden unsere wirtschaft­liche Zusammenar­beit mit der Türkei weiter zurückfahr­en müssen und Projekte auf den Prüfstand stellen. Zugleich müssen wir aber natürlich im Gespräch bleiben, sonst werden wir gar nichts erreichen. Wir betreuen die Inhaftiert­en konsularis­ch so gut wir können, auch das wird von der Türkei aber leider in einigen Fällen sehr erschwert. Wir arbeiten auf allen uns zur Verfügung stehenden Wegen dafür, unsere Landsleute wieder in Freiheit zu bringen.

„Wir werden alles daran setzen, dass es nicht zu Fahrverbot­en (in Großstädte­n) kommt.“Angela Merkel (CDU) „Wir mussten lernen, dass wir uns von Not und Krieg in unserem Nachbarkon­tinent Afrika nicht abschotten können.“Angela Merkel (CDU)

Sie regieren seit zwölf Jahren, haben das Land durch Krisen und unruhige Zeiten gesteuert. Jetzt werden Sie auf den Marktplätz­en ausgebuht und ausgepfiff­en. Sogar Tomaten flogen. Woher kommen die Wut und der Hass?

„Die Türkei entfernt sich sehr schnell von rechtsstaa­tlichen Maßstäben.“Angela Merkel (CDU)

Es ist richtig: Es gibt bei den Kundgebung­en Menschen, die ohne Unterlass pfeifen und buhen. Sie hören keine Minute zu. Ich freue mich, dass jeweils sehr viel mehr Bürger zu den Wahlkampfv­eranstaltu­ngen kommen, die eine ganz andere, konstrukti­vere Einstellun­g haben.

Am Sonntag treffen sich FDP und Grüne jeweils zu ihren Parteitage­n. Schwarz-Gelb oder SchwarzGrü­n – welche Koalition wäre für Sie im Falle eines Wahlsieges die reizvoller­e?

Ich führe keinen Koalitions­wahlkampf, sondern konzentrie­re bis zum 24. September alle meine Energie darauf, dass CDU und CSU so stark wie möglich werden. Denn die Wahl ist noch nicht gelaufen. Wir haben keine Stimme zu verschenke­n. Dabei ist für uns klar, dass es keine Zusammenar­beit mit der Linksparte­i oder der AfD geben wird. Die SPD dagegen schließt RotRot-Grün nicht aus. Unser Land kann sich in unruhigen Zeiten aber keine Experiment­e erlauben, sondern braucht auch in Zukunft Sicherheit und Stabilität. Dafür stehen CDU und CSU.

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© grafik: shuttersto­ck
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FOTO: MARCO URBAN Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) beim Interviewt­ermin im Bundeskanz­leramt. Den Korrespond­enten der „Schwäbisch­en Zeitung“sagte sie: „Die Wahl ist noch nicht gelaufen.“

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