Saison endet mit Literatur
Preisgekrönte Autorin Nina Jäckle stellt im Kunstmuseum Hohenkarpfen neuen Roman vor
HAUSEN O.V. - Traditionsgemäß verabschiedet sich die Kunststiftung Hohenkarpfen mit dem „Literarischen Kehraus“von ihrem Publikum zum Saisonende. Gut hundert Freunde der Kunst- und Literatur warteten am Sonntag gespannt auf die Lesung von Nina Jäckle. Die gebürtige Schwenningerin (am Neckar) lebt in Berlin und hat mit ihrem neuen Roman „Stillhalten“Aufsehen erregt.
Kustos Mark R. Hesslinger gibt bei seiner Begrüßung einen Einblick in die Vita der mehrfach preisgekrönten 51-jährigen Autorin. Eigentlich habe sie französische Literatur übersetzen wollen, sich aber dann zum Selberschreiben entschieden.
Jäckle liest aus dem Anfangskapitel ihres Romans, der in präziser Sprache und gut beobachtet die aufwühlende Geschichte ihrer Großmutter Tamara erzählt. Sie spielt im Jahr 1933: Tamara Danischewski, die junge Tänzerin und Mary WigmanSchülerin, begegnet dem Maler Otto Dix, der sie unbedingt porträtieren will. Gemalt zu werden von einem so großen Maler verheißt Großes – und so „steht“die 21-Jährige zum ersten Mal „lange still“für das Porträt, ohne zu wissen, dass dieses Bild für das Mädchen Tamara den Eintritt in ein Leben des Stillhaltens und Gehorchens fernab der angestrebten Tänzerinnen-Karriere bedeuten sollte.
„Ich werde dich malen – kerzengerade und blond“verspricht Dix. Jäckle schildert genau, wie das hochgeschlossene, züchtige Kleid aus anthrazitgrauem schwerem Samt entstand, das ihre Mutter für diesen Anlass für ihre Tochter nähte. Mit einer weißen Iris in den Händen schenkt die lebenshungrige Tänzerin „vor kräftigem Hopfengrün“dem Maler ein verschmitztes Lächeln. „Steh still“, sagt der berühmte Maler. Das Bild weckt Hoffnungen auf eine gro- ße Zukunft. Doch das war’s für Tamara. Sie hat an dieser „Weggabelung“alles ins Minus gesetzt: Sie heiratet einen wesentlich älteren Mann, der ihr zwar eine gesicherte Existenz bietet, dem sie aber bedingungslos untertan zu sein hat – wie es sich zu damaliger Zeit für eine Frau gehörte. Die Autorin schildert mit wachsender Melancholie, wie ihre Großmutter Tamara ab dem Tag ihrer Hochzeit leidet. Das Hochzeitskleid war das letzte Kleid für einen großen Auftritt; Tanzkleider für weitere Auftritte wird es nicht mehr geben. Lust auf Bewegung hätte die junge Frau schon noch – auf solche Sprünge, wo sie sich vom Boden löst und für einen kurzen Moment schwebt. Doch davon träumt sie nur noch in der engen Abgeschiedenheit des eleganten Hauses am See jenseits eines verheißungsvollen Lebens, das sie als Tänzerin auf den Bühnen der Welt erwartet hätte. Ein Pappkarton mit Autogrammkarten erinnert Tamara daran, was alles hätte werden können. Die Träume aus Musik, Tanz und Amerika sind ausgeträumt. Dafür hat sie jetzt auf dem Land „Weideland, Fliegen und Kriechgetier“.
„Melancholische Melodie“
Prof. Friedemann Maurer, der Vorsitzende der Kunststiftung, bedankt sich bei Nina Jäckle für „den stillen Ton“ihrer Sprache, die als „melancholische Melodie“gut in die November-Stimmung passe. „Auch der Karpfen fällt jetzt in den Winterschlaf und erwacht am Palmsonntag nächstes Jahr wieder“, verabschiedet er sich von den Besuchern. Eine Kopie des Dix-Gemäldes, dessen Original im Kunstmuseum Stuttgart steht, wird von Hand zu Hand weitergereicht.