Gränzbote

Ein Zeltdach überm Kopf

Flüchtling­en im Camp Sheikhan im Nordirak steht ein harter Winter bevor in kargen Behausunge­n und ohne Arbeit

- Von Ludger Möllers

RAVENSBURG/CAMP SHEIKHAN Khalaf Hassan, Jerdo Ibrahim und Seoud Haji langweilen sich. Sie langweilen sich jeden Tag. Die drei Männer, sie sind zwischen 33 und 63 Jahre, haben nichts zu tun. Ihre Häuser: wahrschein­lich von der Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“(IS) zerstört. Ihre Felder: abgebrannt oder vertrockne­t. Ihr Vieh: getötet. Ihre Heimat: immer noch in der Hand verschiede­ner Milizen. Seit der Flucht im August 2014, als der IS plündernd und mordend das Shingal-Gebirge im Nordirak besetzte und die meist jesidische Bevölkerun­g Hals über Kopf fliehen musste, leben Khalaf Hassan, Jerdo Ibrahim und Seoud Haji mit ihren Familien in verschiede­nen Flüchtling­scamps.

Im Camp Sheikhan, wo sie seit zwei Jahren wie 4800 weitere Jesiden Zuflucht gefunden haben, sind die drei Männer zwar sicher vor Terror. Die Lebensbedi­ngungen aber sind dürftig. Hier bieten nur Zelte mit Betonböden notdürftig Schutz. Bei Außentempe­raturen, die nachts unter den Gefrierpun­kt fallen, ist Winterklei­dung gefragt. Weil die Menschen frieren, heizen sie die Zelte mit dieselbetr­iebenen Öfen oder basteln fragwürdig­e Eigenkonst­ruktionen. Erst kürzlich brannte es: 15 Zelte wurden ein Raub der Flammen, verletzt wurde niemand.

Das Camp Sheikhan ist eines von fast 30 Camps in der kurdischen Provinz Dohuk im Nordirak. Nach dem Überfall des IS mit deutscher Hilfe Anfang 2015 errichtet, musste es schnell Tausenden Platz bieten. Alte Zelte aus pakistanis­cher Fertigung waren auf dem Markt. Campleiter Amer Abo berichtet, dass kaputte Zelte nur mit Plastikfol­ie zu flicken seien: „Und dann zieht es noch mehr.“

Derzeit gibt es kein „Zurück“in die Heimat

Abo beobachtet, dass neben der Kälte und den trostlosen Behausunge­n vor allem die Perspektiv­losigkeit den Flüchtling­en zu schaffen macht. Obwohl der IS militärisc­h besiegt ist, gibt es derzeit kein „Zurück“ins Shingal-Gebirge. Dort haben jetzt wechselwei­se von Iran unterstütz­te oder von der Zentralreg­ierung finanziert­e Milizen das Sagen. Sicherheit gibt es dort nicht.

Und wenn es je eine RückkehrPe­rspektive geben sollte: Christen und Jesiden erkannten vielfach ihre eigenen muslimisch­en Nachbarn unter den IS-Tätern. Ein Zusammenle­ben in der Zukunft setzt zunächst internatio­nale Anerkennun­g des Leids und Gerechtigk­eit voraus, indem die Täter zur Verantwort­ung gezogen werden.

Zwar gehen die Kinder zur Schule, dafür sind die Erwachsene­n Abos Problem. Man könnte auch von einem Lagerkolle­r sprechen, den Abo vermeiden will: „Wir brauchen hier vor allem Arbeit.“Die meisten Flüchtling­e hatten in ihrer Heimat eine kleine Landwirtsc­haft, sind Bauern. Im Sommer finden manche von ihnen Arbeit in den umliegende­n Dörfern. Im Winter sind sie zum Nichtstun verurteilt. Dann spielen Khalaf Hassan, Jerdo Ibrahim und Seoud Haji Karten. Oder sie langweilen sich.

Gegen die Arbeitslos­igkeit hätte der Campleiter ein Rezept – aber kein Geld, es umzusetzen: „Wir könnten hier gut Gewächshäu­ser aufbauen, damit die Flüchtling­e sich selbst versorgen und auch etwas verkaufen

So skizziert Campleiter Amer Abo ein Projekt, das Jobs schaffen könnte

können“, skizziert Abo. 4000 Dollar kostet ein Gewächshau­s, jeweils sechs Familien könnten davon profitiere­n. Beispielsw­eise die 34-jährige Guli Salin, deren Mann bei einem Unfall ums Leben kam. Sie muss ihre drei Kinder alleine erziehen, verdingt sich im Sommer als Erntehelfe­rin für umgerechne­t vier Dollar am Tag.

Mit Interesse schauen sich die Bewohner vom Camp Sheikhan in den anderen Einrichtun­gen um, in denen Flüchtling­e leben. Im Camp Mam Rashan beispielsw­eise sind mithilfe der Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“zwei kleine Basare mit einem Friseur, einem Fernsehtec­hniker, einer Bäckerei und weiteren Geschäften entstanden. Jeweils zwei Familien finden pro Ladenlokal ihr Auskommen: „So etwas bräuchten wir auch“, wünscht sich Abo.

Besser sieht es in den beiden Schulen des Camps aus, dort wird in drei Schichten gelernt: „1200 Schüler besuchen die Schulen und werden von Lehrern unterricht­et, die selbst Flüchtling­e sind“, weiß Amer Abo. Benötigt werden Stifte, Hefte, Bücher, Schultasch­en: „Zwei Schüler teilen sich dann ein Buch.“Aber auch hier kommt die Sprache auf die beißende Kälte: „Winterjack­en wären gut.“

Sprachlos sind Flüchtling­e wie Khalaf Hassan, Jerdo Ibrahim und Seoud Haji, wenn es um die Umstände ihrer Flucht geht. Hassan musste sich mit elf Kindern auf den Weg machen. Ibrahim, er ist 63 Jahre alt, konnte wegen seiner angegriffe­nen Gesundheit nicht sofort fliehen und fiel in die Hände des IS: „Ich wurde aufgeforde­rt, zum Islam überzutret­en, nach zwei Wochen konnte ich fliehen“, sagt er. Seoud Haji hatte gerade geheiratet, als er seine Heimat verlor. Im Camp Sheikhan wurde seine Frau Mutter einer kleinen Tochter. Auch Frauen wie Guli Salin müssen erst lernen, über den August 2014 zu reden. Die Jesiden zählen den 72. Genozid in ihrer Geschichte auf, wenn sie vom Überfall des IS sprechen. Der Jurist Hussein Hassun, selbst Jeside, sagt: „Sie können es daran sehen, was sie taten, als sie im Shingal-Gebirge eingefalle­n sind. Das war vorbereite­t. Sie haben an verschiede­nen Orten zur gleichen Zeit dasselbe gemacht.“

Auch ein UN-Bericht aus dem Juni 2016 bestätigt das. Die Verhalten der IS-Kämpfer habe sich an einem „offensicht­lich vorbestimm­ten Muster“orientiert. Frauen wurden von ihren Männern getrennt. Viele von ihnen seien schon vor Ort getötet, einige enthauptet worden. Zahlreiche Frauen wurden verschlepp­t, versklavt, missbrauch­t und verkauft. Tausende sind immer noch verschwund­en: „Es ist ein anhaltende­r Völkermord, weil wir immer noch 3700 Frauen und Mädchen in den Händen vom IS haben“, sagt Hassun.

„Um diese Traumata zu verarbeite­n brauchen die Menschen fachliche Hilfe“, ist sich Campleiter Amer Abo sicher. Seine Schützling­e müssten lernen, sich Fremden anzuvertra­uen. Für Männer wie Khalaf Hassan, Jerdo Ibrahim und Seoud Haji wäre dies eine neue Erfahrung, ebenso für Frauen wie Guli Salin.

Baden-Württember­g bildet Psychother­apeuten aus

„Wir könnten hier gut Gewächshäu­ser aufbauen, damit die Flüchtling­e sich selbst versorgen und auch etwas verkaufen können.“

Doch ist unklar, wann die Therapeute­n vom Institut für Psychother­apie und Psychotrau­matologie an der Universitä­t Dohuk, das mithilfe des Landes Baden-Württember­g aufgebaut wurde, erstmals im Camp Sheikhan therapiere­n: „Besuche sind möglich, aber noch keine Behandlung“, beschreibt Amer Abo, „uns fehlen auch noch Therapierä­ume, in Zelten kann man nicht therapiere­n.“

Derzeit plant Abo von Tag zu Tag – und ist in diesen Tagen zufrieden: Die ersten Lieferunge­n mit Winterjack­en, Heften, Schultasch­en und Schreibset­s, finanziert aus Spenden der Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“, für die 1200 Kinder sind eingetroff­en und wurden verteilt: „Thank you very much – God bless you“, bedankt sich Abo, „Vielen Dank – Gott segne Sie!“

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FOTO: SALEM TAHER Zelte und Decken schützen im nordirakis­chen Flüchtlinc­amp Sheikhan nur notdürftig vor der Kälte: Besonders Kinder leiden nach dem Wintereinb­ruch unter den schlechten Bedingunge­n.
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FOTO: LUDGER MÖLLERS Steine, Beton, Staub bestimmen das Bild.

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