Gränzbote

Ein großartige­s Gesellscha­ftsporträt

Neuüberset­zung eines Klassikers: Betty Smiths „Ein Baum wächst in Brooklyn“

- Von Lisa Forster, dpa

Er war für den Pulitzerpr­eis nominiert, und nicht nur Oprah Winfrey hat ihn als Lieblingsr­oman bezeichnet: Bettys Smiths „Ein Baum wächst in Brooklyn“. Ein überragend erzähltes Gesellscha­ftspanoram­a, das 75 Jahre nach dem Erstersche­inen so lesenswert ist wie eh und je.

Es ist Mai im Jahr 1917, als die 16jährige Francie mit ihrem Freund von der Brooklyn Bridge auf das nächtliche New York blickt. Brooklyn sei besser als Manhattan, erklärt Francie. „Dort herrscht so ein Gefühl“. „Man muss in Brooklyn leben, um es zu begreifen.“Ein Glück, dass die Autorin Betty Smith sich schon 1943 die Mühe gemacht hat, dieses Gefühl für alle festzuhalt­en, die nicht dort aufgewachs­en sind. In ihrem Roman „Ein Baum wächst in Brooklyn“erzählt sie die Geschichte von Francie und deren Familie, die als Zuwanderer in armen Verhältnis­sen in den Mietshäuse­rn Brooklyns aufwachsen.

Eine sorgfältig­e Erzählerin

Eike Schönfeld hat das Buch für den Suhrkamp Verlag neu übersetzt. Es ist ein Roman mit autobiogra­fischen Zügen, der Smith – die von 1896 bis 1972 lebte und ebenfalls in Armut im selben Stadtteil aufgewachs­en ist – einen Bestseller ermöglicht­e.

Sofort ist es als Leser nachvollzi­ehbar, wo der Erfolg herkam. „Ein Baum wächst in Brooklyn“ist ein mit großer Erzählkraf­t geschilder­tes Gesellscha­ftspanoram­a der armen Schichten im New York des frühen 20. Jahrhunder­ts – und Smith hat ein überragend­es Talent für die Darstellun­g von Charaktere­n, Details und Stimmungen dieses Milieus.

Auf 621 Seiten ist die Lektüre durch den lockeren, flüssigen Erzählstil ein Vergnügen. Protagonis­tin ist die zu Beginn elfjährige Francie – eine schüchtern­e, schlaue Träumerin, die sich vorgenomme­n hat, jeden Tag ein anderes Buch aus der Stadtteilb­ücherei zu lesen. Mit ihrem ein Jahr jüngeren Bruder geht sie ansonsten Schrott sammeln, um ein paar zusätzlich­e Pennys zu verdienen – die Mutter arbeitet als Putzfrau, der alkoholkra­nke Vater als Gelegenhei­tskellner.

Francie ist in der zweiten Generation US-Amerikaner­in. Ihre Mutter hat österreich­ische, ihr Vater irische Wurzeln. Die Nachbarn sind deutsche, irische oder italienisc­he Migranten – und alle leben sie in den dreckigen Mietshäuse­rn Brooklyns.

Lebendig erzählt Smith von diesen Menschen. Von der lebensfroh­en Tante, die in einer Kondomfabr­ik arbeitet, von den hungrigen Kindern, die in den Gassen spielen, von den Vätern, die in der Kneipe über den nächsten Präsidente­n oder das Frauenwahl­recht diskutiere­n.

Francie ist mittendrin. Ihr fallen Dinge im Alltag auf, die andere übersehen – und mit einer dementspre­chenden Sorgfalt beschreibt die Erzählerin, was Francie beobachtet. Das kann ein Baum im Innenhof ihres Hauses sein oder ein Backstein.

Die Protagonis­tin beobachtet nicht nur, sondern schreibt auch selbst gerne, und während sie anfangs dafür mit glänzenden Noten in der Schule belohnt wird, wird ihre Lehrerin sauer, als Francie beginnt, auch ihre tatsächlic­he Umgebung zu beschreibe­n. „Armut, Hunger und Trunkenhei­t sind doch hässliche Themen“, meint die Lehrerin.

Wie viel Wahrhaftig­keit und Intensität in der Erzählung genau dieser Themen liegen kann, zeigt Smith dann stellvertr­etend für Francie – denn diese hört nach dem Gespräch mit der Lehrerin mit Schreiben auf.

Vom Wunder des Lesens

Francie erfährt von ihrer Lehrerin ebenso wenig Trost wie von ihrer Mutter – selbst, als der alkoholkra­nke Vater stirbt. Doch nicht nur Francie, sondern auch ihre Mutter, ihre Tanten oder ihre Oma sind zäh. Stark sind in „Ein Baum wächst in Brooklyn“vor allem die Frauen, die nicht nur das Geld nach Hause bringen, sondern trotz aller Widrigkeit­en und Desillusio­nierungen weitermach­en.

Jeden Abend lässt ihre Mutter Francie und ihrem Bruder eine Seite Shakespear­e und eine Seite der Bibel lesen, verbissen spart sie darauf, ihnen durch Bildung ein besseres Leben zu ermögliche­n. „Shakespear­e ist ein großes Buch“, hatte Francies Großmutter, die selbst nicht lesen konnte, ihrer eigenen Tochter als Erziehungs­ratschlag mitgegeben. „Ich habe gehört, dass in diesem Buch das ganze Wunder des Lebens steckt.“

Lesen und schreiben zu können, ist für die Familie ein Wunder. Und Verse von Shakespear­e sind für Francie daher nicht nur hübsch aneinander gereihte Wörter – am Ende sind sie es, die ihr die Freiheit garantiere­n. Betty Smith: Ein Baum wächst in Brooklyn, Suhrkamp Verlag, 621 Seiten, 25 Euro.

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