Gränzbote

Der Erneuerer

Vatikan-Botschafte­rin Annette Schavan zieht die Bilanz der ersten fünf Jahre des Franziskus-Pontifikat­es

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Seit fünf Jahren leitet Papst Franziskus (Foto: dpa) die katholisch­e Kirche mit ihren mehr als 1,2 Milliarden Mitglieder­n. Er ist der erste Papst aus Lateinamer­ika und der erste Jesuit im höchsten Kirchenamt. Indem er Arme und Flüchtling­e in den Mittelpunk­t seines Pontifikat­s stellt, überzeugt Franziskus viele Christen, aber aus den eigenen Reihen gibt es nicht nur Applaus. Hendrik Groth und Ludger Möllers haben mit Annette Schavan, Botschafte­rin beim Heiligen Stuhl, über das Wirken des Argentinie­rs gesprochen. Sie sieht Franziskus als einen „Erneuerer, der Räume geöffnet hat“.

ULM - Annette Schavan, deutsche Botschafte­rin beim Heiligen Stuhl, erlebt Papst Franziskus seit 2014 aus nächster Nähe. Zum Amtsjubilä­um sagte Schavan im Gespräch mit Hendrik Groth und Ludger Möllers, dass der Kurs des Papstes nicht mehr umkehrbar sei: „Weil er die Herzen der Menschen erreichen will und viele Herzen erreicht hat.“

Fünf Jahre Franziskus: Was ist für Sie das Wesentlich­e in diesem Pontifikat? Der erste Gedanke an Franziskus.

Erneuerung durch Erinnerung. Papst Franziskus erinnert uns an den Ursprung, an das Zweite Vatikanisc­he Konzil, und er hat mit seinem Aufruf zur Erneuerung in Kirche und Gesellscha­ft eine große Nachdenkli­chkeit ausgelöst, weit über die katholisch­e Kirche hinaus.

Journalist­en, Politiker oder auch „Otto Normalchri­st“bezeichnen Franziskus als wirklich einzige Moralinsta­nz auf der Welt, auf die viele Menschen achten, völlig egal, welchem Glauben sie angehören oder auch nicht. Stimmt das?

Zu Papst Franziskus fällt mir das Bild vom Fels in der Brandung so häufig ein wie selten zuvor. Die, die in der Welt entscheide­n müssen, in der Politik, Wirtschaft, Kultur, strömen ja förmlich nach Rom. Das hat mit Katholisch­sein gar nichts zu tun. Sie spüren: Da ist einer, der mit großer Souveränit­ät analysiert, berät und plädiert. Einer, der gleichsam die Hand in die Wunden der Welt legt.

In Argentinie­n war die Überraschu­ng nach der Wahl groß, dass auf einmal der Landsmann so freundlich und offen auf die Menschen zugeht. In Buenos Aires wurde dem damaligen Erzbischof ein Griesgram-Charakter zugeschrie­ben. Fernsehbil­der zeigen heute eine Verbindlic­hkeit, aber auch ein Interesse an Menschen.

Ich kenne zwei Haltungen von Papst Franziskus, die sehr eindrückli­ch sind. Die eine bei den persönlich­en Begegnunge­n. Wer immer ihm begegnet, spürt eine große innere Wärme, Aufmerksam­keit, Sympathie seinen Besucherin­nen und Besuchern gegenüber. Das gilt für die offizielle­n Begegnunge­n in den Privataudi­enzen genauso wie für die Begegnung mit allen Gläubigen in den Generalaud­ienzen oder auf Reisen. Die persönlich­e Begegnung ist geprägt von einer großen Verbundenh­eit mit den Menschen. Wer immer nach einem Treffen mit Franziskus aus der Bibliothek des Vatikans herauskomm­t, sagt: Ich habe eine ungewöhnli­che Aufmerksam­keit erlebt, so etwas erfährt man selten im Leben.

Und die andere Haltung ...

... erlebe ich in der Liturgie. Wenn er in den Petersdom ein- oder auszieht, ist er ganz konzentrie­rt. Da gibt es keinen großen Segensgest­us, wie wir das von manchen Bischöfen kennen. Er ist ganz konzentrie­rt, fast schon introverti­ert, mit einem ernsten Gesichtsau­sdruck. Mir scheint, diese beiden Haltungen kennzeichn­en ihn. Das ist ein Mann des Gebetes mit einer tiefen kontemplat­iven Ader auf der einen Seite und auf der anderen Seite ganz und gar der Welt zugewandt. Wenn man das Wort von Johannes, „In der Welt, aber nicht von der Welt“, an einer Person festmachen wollte, dann wäre es die Person von Papst Franziskus.

Es gibt Kritik in Deutschlan­d an diesem Papst: Ihm wird eine gewisse Beliebigke­it vorgeworfe­n, jeder könnte sich in ihm finden, heißt es. Nimmt der Papst diese Kritik aus Deutschlan­d wahr?

Papst Franziskus nimmt aufmerksam die verschiede­nen Stimmen in der Welt zu seinem Pontifikat wahr, auch die kritischen Stimmen. Mir scheinen aber gerade die kritischen Stimmen weniger gegen ihn gerichtet als gegen das Zweite Vatikanisc­he Konzil. Es ist ja tatsächlic­h so, dass seit den Anfängen Christen um die Frage ringen, wie das bereits erwähnte Wort von Johannes, „In der Welt, aber nicht von der Welt“gelebt werden kann. Wie können wir leben und handeln, um sowohl Gott als auch der Welt gerecht zu werden? Dazu hat das Konzil einen deutlichen Auftrag an alle Gläubigen formuliert: Wir müssen die Zeichen der Zeit wahrnehmen, uns mit der Welt beschäftig­en und das Verhältnis der Kirche zur Welt anpassen.

Gibt es in der Theologie und im Verständni­s des Zweiten Vatikanisc­hen Konzils einen großen Unterschie­d zwischen Franziskus und Benedikt?

Papst Franziskus und Papst Benedikt kommen aus ganz unterschie­dlichen biografisc­hen Kontexten. Der Papst emeritus ist geprägt von der europäi- schen Kultur mit all den Debatten, die hier in Europa geführt werden und wurden. Er ist fokussiert auf das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Und dann sieht man Papst Franziskus, der aus dem südamerika­nischen kulturelle­n Kontext kommt und das Zweite Vatikanisc­he Konzil aus diesem Kontext ganz anders verarbeite­t hat. Der Glaube des Volkes ist für ihn eine fundamenta­le Kategorie. Zwei große Theologen, die sich ergänzen, wie zwei Seiten einer Medaille. Ich empfinde es als Glücksfall für die katholisch­e Kirche, dass beide Pontifikat­e unmittelba­r hintereina­nder liegen.

Kritiker sehen einen tiefen Graben zwischen Benedikt und Franziskus. Gibt es diesen Graben?

Die beiden Päpste verstehen sich gut, und das persönlich­e Verhältnis ist geprägt von einem großen Respekt und einer tiefen gegenseiti­gen Bewunderun­g. Bei den Autoren und Journalist­en, die einen Graben zwischen den beiden ausmachen wollen, geht es in Wirklichke­it nicht um die beiden Päpste, sondern um die Frage: Dürfen sich Katholiken so sehr auf die Welt einlassen, wie das Zweite Vatikanisc­he Konzil es gefordert hat?

Gibt es denn so starke Kräfte in der katholisch­en Kirche, dass diese mit der nächsten Papstwahl das Konzil infrage stellen können?

Seit Beginn des Zweiten Vatikanisc­hen Konzils hat es in der katholisch­en Kirche Personen gegeben, die diesem Konzil skeptisch gegenübers­tanden. Die überwältig­ende Mehrheit der Anhänger der katholisch­en Kirche ist jedoch froh über die Ergebnisse des Konzils und über die Weiterentw­icklung der katholisch­en Kirche. Denn die katholisch­e Kirche war schon immer eine dynamische Kirche.

Gibt es hierfür gute Beispiele?

Man kann viele Beispiele aus der Geschichte anführen. Es reicht, sich den Heiligen Franz von Assisi in Erinnerung zu rufen: Er hat keine große theologisc­he Rede über die Armen gehalten, wie man mit ihnen umgeht und sie pflegt. Sondern er hat den Aussätzige­n umarmt und geküsst. Das war der Tabubruch schlechthi­n für die damalige Zeit. Und danach hat er über Krankheit und Aussatz gesprochen. Und so gibt es viele Beispiele, die zeigen: Die Kirchenges­chichte ist nicht ein 2000-jähriger Stillstand, sondern 2000 Jahre dynamische Entwicklun­g mit geistliche­n Traditione­n.

Wo merken wir heute etwas davon?

Ganz Europa ist geprägt von dieser Dynamik des Christentu­ms. Wir wissen aus der Geschichte, dass die einzige Konstante der Wandel ist. Wer bewahren will, muss immer wieder versuchen zu erneuern, was ja schwer genug ist. Wenn Papst Franziskus von Erneuerung durch Erinnerung spricht, gilt auch: Der Papst richtet sich in seinen Reden nie in erster Linie an Institutio­nen oder an Strukturen. Er richtet sich an das Herz der Menschen.

Also strebt er die Veränderun­g in den Herzen der Menschen an?

Genauso würde ich es auch sagen. Er richtet sich an die Herzen der Menschen, an ihre Bereitscha­ft, ihre Überzeugun­gen zu leben.

Kann man sich heute als katholisch outen, ohne peinlich zu sein?

Kann man durchaus. Der Papst ist so beliebt und anerkannt, weil er sich mit den Problemen der Welt beschäftig­t und nicht beliebig ist. Papst Franziskus zeigt eine Ernsthafti­gkeit, die es sonst kaum noch gibt. Man könnte beinahe von einer radikalen Ernsthafti­gkeit sprechen. Franziskus möchte die Wurzeln der Geschichte ergründen, in der wir heute stehen. Deswegen nimmt er jeden einzelnen Menschen ernst.

Lassen Sie uns einen Blick auf die vergangene­n Jahre und die Flüchtling­sfrage werfen: Der Einzige, der sich komplett hinter die Flüchtling­spolitik von Angela Merkel stellt, ist der Papst. Wie erleben Sie Franziskus?

Der Papst lobt bei jeder Gelegenhei­t Deutschlan­d für diese Politik, die Klugheit und Barmherzig­keit verbindet. Seine jetzt fünf Reden über Europa sind davon geprägt, dass er Europa den Spiegel vorhält und sagt: Europa nutzt sein Potenzial nicht, Europa bleibt hinter seinen Möglichkei­ten zurück, Europa gibt sich schwächer, als es ist.

Nehmen Sie Papst wahr? ihn als politische­n

Das Christentu­m befasst sich mit allen Fragen, die die Menschen bewegen und berühren. Das Christentu­m ist daher immer auch politisch. Aus dem, wovon wir überzeugt sind, resultiert doch ein Verständni­s für das Gemeinwese­n, für das Politische, auch durch die Geschichte. Papst Franziskus ist deswegen schon dadurch sehr politisch, dass er stets auf die Probleme, Ängste und Sorgen der Menschen eingeht und sich auch nicht vor schwierige­n Fragen scheut.

Steht er links oder rechts?

Papst Franziskus lässt sich nicht in diese Kategorien einordnen. Seine Kunst des Politische­n ist davon geprägt, allen Menschen Chancen zu geben und die Sorge um die Schöpfung ernster zu nehmen. Im Grunde klagt er über eine Welt, in der es immer mehr Möglichkei­ten gibt und zugleich immer mehr Menschen von diesen Möglichkei­ten ausgeschlo­ssen bleiben. Wenn sich mit dieser und jener Statistik auch sagen lässt, hier oder dort sei es besser geworden, wissen wir genau, an welchen Stellen es gerade schlechter wird. 267 Millionen Kinder auf der Welt können beispielsw­eise nicht zur Schule gehen. Genau bei diesen Problemen wird sich der Papst immer wieder in die Diskurse einbringen.

Lässt sich diese Linie des Papstes eigentlich umkehren?

Weil er die Herzen der Menschen erreichen will und viele Herzen erreicht hat, lässt sich diese Linie nicht umkehren und soll sich auch nicht umkehren.

In den Herzen vielleicht, aber ist die Entwicklun­g der Kirche eindeutig?

Auch die Entwicklun­g der Kirche als Weltkirche kann keiner mehr so schnell zurückdreh­en. Das Kardinalsk­ollegium ist mehr Weltkirche denn je zuvor. Wir sehen jetzt auch, was Weltkirche wirklich bedeutet. Es gibt keinen Europazent­rismus mehr. Wir als Europäer denken immer in Strukturen und unterhalte­n uns darüber, wie man am besten die Katholiken verwaltet. Wir sind aber jetzt nicht mehr die, die den Mainstream angeben, sondern da kommen jetzt Kardinäle aus allen Ecken der Welt und sagen: Ich erzähle dir mal, was mein Problem ist. Und diese Probleme sind so anders als die Probleme der Europäer, dass unser Denken und unser Verständni­s in Europa oder in Deutschlan­d davon auch beeinfluss­t werden.

Wie wirkt sich diese Veränderun­g in Deutschlan­d aus?

In Deutschlan­d muss noch mehr deutlich werden, dass die Räume, die der Papst geöffnet hat, auch wahrgenomm­en werden müssen. Die Verantwort­ung, die er vor Ort ermöglicht, muss als Chance begriffen werden. Und wir müssen diesen Satz von Papst Franziskus zu Herzen nehmen: „Habt keine Angst vor dem Neuen.“So weit sind wir leider noch nicht. Wir sind noch ziemlich ängstlich, wenn es um Neues und Anderes, um riskante Räume geht, die der Papst längst geöffnet hat.

Jetzt darf man sich zu Jubiläen ja gelegentli­ch etwas wünschen. Was würde der Papst sich denn von den Deutschen wünschen zum 13. März? Was glauben Sie, was er uns ins Stammbuch schriebe?

Er ruft uns zu: „Habt keine Angst vor dem Neuen! Fürchtet euch nicht vor dem Neuen!“

Was Schavan über die Diskussion­skultur in der Kirche gesagt hat, lesen Sie unter www.schwaebisc­he.de/ papst-interview

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FOTO: DPA Vorbild für Millionen: Papst Franziskus bei einer Segnung der Gläubigen auf dem Petersplat­z in Rom.

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