Gränzbote

Ein historisch­er Ort – neu entdeckt

Bis zu 1000 Zwangsarbe­iter hausten im Münchner Westen in einem Barackenla­ger – Jetzt soll es eine Gedenkstät­te werden

- Von Sandra Tjong

MÜNCHEN - Kalt und hohl wirkt die Baracke Nummer 5 an der Ehrenbürgs­traße 9 in Neuaubing. Hier im Winter mit nur zwei Decken zu schlafen, eine unter dem Körper, eine zum Zudecken, muss eine äußerst frostige Angelegenh­eit gewesen sein – mit nur einem kleinen Ofen für die gesamte Baracke. Doch es war harte Wirklichke­it für die Zwangsarbe­iter in dem Lager im Westen von München, beschriebe­n vom italienisc­hen Insassen Gino de Zolt. Als Kissen dienten ihm Kleidungss­tücke, die er am nächsten Morgen wieder anzog. Gino de Zolt war 1943 aus Rom nach München verschlepp­t worden und einer von zeitweise bis zu 1000 Männern und Frauen, die zeitgleich in den acht Baracken der Siedlung hausten.

Jahrzehnte­lang interessie­rte sich niemand für die Geschichte des Ensembles, das geradezu verwunsche­n hinter Bäumen liegt. Es gehörte der Bahn und diente zwischenze­itlich Lehrlingen als Unterkunft. Seit gut zwei Jahrzehnte­n haben Handwerker und Künstler hier günstige Arbeitsräu­me, dazu wird es von pädagogisc­hen Einrichtun­gen genutzt. Erst mit der Erschließu­ng des neuen Stadtteils Freiham direkt nebenan wuchs das Bewusstsei­n für den historisch­en Ort.

Die Gedenkstät­te kommt

Inzwischen ist es beschlosse­ne Sache: Die Stadt wird dort bis 2023 einen Erinnerung­sort errichten, der die Geschichte von Zwangsarbe­it in München und Nazi-Deutschlan­d spürbar machen soll. Bei den Nutzern lösten die Pläne zunächst Existenzän­gste aus. Inzwischen sind sich beide Seiten aber näher gekommen, sodass auch unter Mitwirkung der Mieter ein spannender, lebendiger Gedenkort entstehen könnte.

Aus heutiger Sicht ist es schwer begreiflic­h, dass die Geschichte der Zwangsarbe­iter über Jahrzehnte derart vernachläs­sigt worden ist. Allein in München gab es nach den jüngsten Forschunge­n von Paul-Moritz Rabe, Historiker am NS-Dokumentat­ionszentru­m und Projektbea­uftragter für das Zwangsarbe­iterlager, rund 550 Sammellage­r. In ihnen waren zwischen 150 000 und 200 000 Menschen untergebra­cht, darunter auch Kriegsgefa­ngene, meist aber zivile Zwangsarbe­iter.

Von 1942 an wurden sie systematis­ch und unter Zwang herangesch­afft, damit sie die Arbeit bei der Reichsbahn, Dornier, BMW oder auch auf dem Feld erledigten. Nicht alle Lager waren so groß wie Neuaubing. Manche bestanden aus einem Wirtshausr­aum. „Die Lebenssitu­ation war keineswegs menschenwü­rdig“, sagt Rabe. „Sie bekamen gerade so viel, dass sie überleben konnten, da ihre Arbeit wichtig war.“Er und Kollegen haben in den vergangene­n Jahren Überlebend­e aufgespürt und ihre Lebensläuf­e erforscht. Besonders schlecht hatten es die Arbeiter aus Osteuropa.

Die meisten Orte, die in der Nazizeit als Lager dienten, wurden abgerissen. Die Siedlung in Neuaubing bildet insofern eine absolute Ausnahme, so gut wie sie als Ensemble erhalten ist. Bekannt ist Rabe als vergleichb­ares Beispiel nur das Lager in Schöneweid­e in Berlin, das einen musealen Charakter hat.

In Neuaubing will man andere Wege gehen: Der Ort soll lebendig bleiben. Zu den Eckpunkten, die der Stadtrat Ende Oktober beschlosse­n hat, gehört, dass – ganz klassisch – der Alltag im Lager und Einzelschi­cksale von Zwangsarbe­itern multimedia­l thematisie­rt werden, in Baracke Nummer 5 und auf dem Gelände insgesamt. Genauso soll aber auch die weitere Entwicklun­g des Ortes aufgezeigt werden. Die Idee ist, dass durch das Nebeneinan­der der leidvollen Vergangenh­eit und der heutigen Nutzung neue Möglichkei­ten entstehen, um insbesonde­re jungen Menschen Geschichte nahezubrin­gen.

Wie genau das realisiert wird, ist noch unklar. Rabe spricht von einem „Ort mit Experiment­iercharakt­er“. Zusätzlich zu Baracke Nummer 5 soll ein Gebäude zur „Geschichts­werkstatt“ausgebaut werden – etwa für Projektarb­eit mit Schülern, Migranten und internatio­nalen Besuchern. „Wir müssen Erinnerung neu denken“, sagt Rabe. Bisher übernahmen Zeitzeugen einen wichtigen Stellenwer­t, um Menschen emotional zu erreichen. Doch ihre Zeit ist endlich. Was kommt danach? Für Rabe könnte die Kunst eine Vermittlun­gsrolle übernehmen – unter Mitwirkung externer Künstler wie auch der Vertreter vor Ort.

Die Mieter entwickeln Ideen

Die Mieter stehen dem Projekt inzwischen offen gegenüber, es gibt bereits eigene Ideen. Das war lange anders. „Wir waren jahrelang ziemlich skeptisch“, sagt Peter Heesch, Vorsitzend­er von Fauwe. Der Verein wurde gegründet, um angesichts der zunehmende­n Bebauung eine Interessen­vertretung zu haben. Die Mieter selbst hatten sich zunächst dafür eingesetzt, das Gelände unter Denkmalsch­utz zu stellen, um es vor Immobilien­firmen zu schützen.

Am Ende wurde der Schutz weitreiche­nder, als manchem lieb war: Die Baracken dürfen nicht mehr nach Gusto umgestalte­t werden. Vorübergeh­end wurde mit der Idee gespielt, das Gelände in den Zustand von 1945 zurückzuve­rsetzen. Das hätte massive Einschnitt­e bedeuten können, womöglich die Kündigung. Seit dem Wechsel an der Spitze des NS-Dokumentat­ionszentru­ms hin zu Mirjam Zadoff wehe aber ein anderer Wind, sagt Heesch. „Es gebe ein faires Miteinande­r.“

Im neuen Jahr will Rabe alle an einen Tisch holen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Dabei gibt es manches Konfliktpo­tenzial. Klar ist, dass das Gelände verändert wird, was bei einigen Mietern auf Vorbehalte stößt. So soll der Appellchar­akter des zentralen Platzes, der heute bewachsen und mit Bauwagen besiedelt ist, stärker zum Vorschein kommen. Unabhängig davon wird die Stadt als neue Eigentümer­in das Gelände vorsichtig sanieren. Was, wenn anschließe­nd die Mieten stark steigen? „Der Dornrösche­nschlaf ist definitiv vorbei“, sagt Heesch.

 ?? FOTOS: HANS-RUDOLF SCHULZ ?? Paul-Moritz Rabe, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des NS-Dokumentat­ionszentru­ms, hat über Zwangsarbe­iterlager in München geforscht.
FOTOS: HANS-RUDOLF SCHULZ Paul-Moritz Rabe, wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des NS-Dokumentat­ionszentru­ms, hat über Zwangsarbe­iterlager in München geforscht.
 ??  ?? Das komplette Gelände steht als Ensemble unter Denkmalsch­utz und soll zukünftig als Zweigstell­e des NS-Dokumentat­ionszentru­ms dienen.
Das komplette Gelände steht als Ensemble unter Denkmalsch­utz und soll zukünftig als Zweigstell­e des NS-Dokumentat­ionszentru­ms dienen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany