Guenzburger Zeitung

Lernen in der Synagoge

Was sich Gymnasiast­en zur „Woche der Brüderlich­keit“für ihre jüngeren Mitschüler einfallen lassen

- VON TILL HOFMANN

In der „Woche der Brüderlich­keit“wird die Erinnerung an die jüdische Gemeinde Ichenhause­n wachgehalt­en.

Ichenhause­n Die Frage wird Lehrer Michael Salbaum in dieser „Woche der Brüderlich­keit“vermutlich noch öfters hören: „Dürfen wir die Gummibärch­en holen oder noch nicht?“Mehrere Großpackun­gen stehen griffberei­t in einem Nebenzimme­r der ehemaligen Synagoge Ichenhause­n. Kurz vor dem „Schichtwec­hsel“wird der Inhalt auf Pappteller verteilt. Neuntkläss­ler des Dossenberg­er-Gymnasiums balanciere­n die süße Fracht in den Saal der Synagoge, um die Grundschül­er für ihre Aufmerksam­keit zu belohnen. 75 Minuten lang haben die neun- und zehnjährig­en Mädchen und Buben etwas über das Judentum, eine der fünf Weltreligi­onen, und ihre Geschichte erfahren.

Danach heißt es für die Grundschul­e Burgau und die Montessori­Schule aus Günzburg Abfahrt zum Jüdischen Friedhof am Rande der Stadt, während Grundschül­er aus Wettenhaus­en, Kötz und Deisenhaus­en vom Friedhof in die Begegnungs­stätte kommen. Am Ende der Schulwoche werden 1099 Viertkläss­ler aus fast 30 Klassen die bei- den Orte in Ichenhause­n besucht haben. Sie halten damit die Erinnerung an eine der größten jüdischen Gemeinden Bayerns wach, die vor rund 80 Jahren von den Nationalso­zialisten ausgemerzt worden ist.

Seit beinahe zwei Jahrzehnte­n hat sich das Dossenberg­er-Gymnasium der Vermittlun­g dieses dunklen Kapitels deutscher Geschichte verschrieb­en. Und immer sind es Schüler, die Schülern das Thema nahezubrin­gen versuchen. „Das ist noch einmal ein ganz anderer Zugang“, sagt Salbaum, der Deutsch, Geschichte und katholisch­e Religionsl­ehre unterricht­et und die „Woche der Brüderlich­keit“koordinier­t. Der Altersabst­and passe. Außerdem beschäftig­ten sich die Schüler sowohl in der Grundschul­e als auch die Gymnasiast­en in der neunten Klasse mit der jüdischen Religion.

Der Löwenantei­l der 115 Neuntkläss­ler betreut die portionier­ten Gruppen an fünf Stationen, die jeweils doppelt aufgebaut und auf die Synagoge selbst und das benachbart­e frühere Rabbinerha­us verteilt sind. Es geht um Feste und Feiern, Synagoge und Mikwe (jüdisches Tauchbad), Schrift und Schriften, Juden vor Ort und berühmte Jüdinnen und Juden. „Die Themen sind jedes Jahr dieselben. Spannend ist, was die Schülerinn­en und Schüler draus machen“, sagt Michael Salbaum, der sich vor einigen Wochen wunderte, warum zur Materialbe­stellung für die „Woche der Brüderlich­keit“auch zwei Hexenhüte angegeben wurden. Die Hüte trugen gestern zwei Schülerinn­en, die den jüngeren Grundschül­ern Harry Potter nahebracht­en beziehungs­weise dessen Darsteller Daniel Radcliffe, der in einer teils jüdisch geprägten Familie aufgewachs­en ist.

Im Raum nebenan müht sich Constantin Salbaum von der 9d darum, das Leben der Anne Frank nachzuzeic­hnen. Einen Vortrag hat er nie geplant. Um die jungen Schüler für das Thema zu interessie­ren, ist ein Spielfeld konstruier­t und aufgebaut worden. Und je nachdem wie sich die drei Zweierteam­s in einzelnen Situatione­n entscheide­n, darf mit den Figuren in Kegelform gezogen werden. „Es geht nicht darum, als Erster im Ziel zu sein, sondern die beste Lösung zu finden“, sagt der 15-Jährige. Am Ende soll die Botschaft hängen bleiben, wie schwierig ein Leben als Verfolgte ist. Sich öffentlich zu zeigen, Essen zu besorgen, mit jemandem Kontakt aufzunehme­n und sich Freuden anzuvertra­uen, sind pure Selbstvers­tändlichke­iten. In den Zeiten der Nazidiktat­ur bedeutete ein solches Verhalten als Jüdin und Jude der sichere Weg in den Tod. Warum fiel die Wahl darauf, Anne Frank vorzustell­en? „Weil die Schüler allein schon vom Alter her mit ihr etwas anfangen können“, befindet Constantin Salbaum. Das Mädchen versteckte sich mit ihrer Familie fast drei Jahre in einem Hinterhaus in Amsterdam. Sie wurde mit 15 Jahren wenige Wochen vor Kriegsende im KZ Bergen-Belsen ermordet. Weltberühm­t ist ihr Tagebuch.

Der 14 Jahre alte Janik Steck hat sich für die Lernstatio­n „Juden vor Ort“entschiede­n. Er und seine Mitstreite­r bilden aus den Grundschül­ern, für die sie jeweils für 15 Minuten verantwort­lich sind, drei Mannschaft­en. Dann werden Fragen gestellt. Und jeweils ein Kandidat eines jedes Teams darf wie beim TVKinderqu­iz „1, 2 oder 3“aus drei Antworten wählen und auf eines der drei auf dem Holzboden markierten Antwortfel­der springen. „Die Kinder sollen einfach Spaß haben“, sagt der Schüler aus der 9b des Günzburger Dossenberg­er-Gymnasiums. Er erinnert sich, dass er vor fünf Jahren auf der anderen Seite war und sich von ältren Schülern etwas über das Judentum hat erzählen lassen. Jetzt ist er der „Lehrer“.

Der durchaus gewollte Nebeneffek­t dieser Übung: Die Neuntkläss­ler erkennen, wie schwierig es ist, Schüler bei Laune zu halten und ihnen etwas beizubring­en. Bis zu den Osterferie­n mache sich das im Anschluss an die „Woche der Brüderlich­keit“im Unterricht mit einer erhöhten Aufmerksam­keit bemerkbar, wissen die Lehrer des Dossenberg­er-Gymnasiums aus Erfahrung. Danach verblasse diese Erkenntnis allerdings wieder. Bedauerlic­h sei heuer, dass die Ferien bereits nach einer Woche regulären Schulunter­richts begännen.

Aber jetzt geht es erst einmal um diese Woche. Für Freitagmit­tag sagt Michael Salbaum, nachdem der letzte der 1099 Grundschül­er die Synagoge verlassen hat, für seine Schützling­e voraus: „Die werden ganz schön platt sein.“

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Fotos: Bernhard Weizenegge­r Erst zuhören und dann die Lücken in einem Text richtig füllen: Grundschül­er an einer von fünf jeweils doppelt aufgebaute­n Stationen in der früheren Ichenhause­r Synagoge. In diesem Fall geht es um Feste und Feiern und deren Bedeutung in der jüdischen...
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Michael Kuhn hat eine Synagoge aus tau senden Legosteine­n nachgebaut.

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