Guenzburger Zeitung

„Staatliche­s Organversa­gen“

Elf Jahre lang konnte der NSU in Deutschlan­d morden, bis die Terrorzell­e aufflog. Der Journalist und Autor Tanjev Schultz erklärt, wie es so weit kommen konnte und welche ergreifend­en Momente er im Prozess erlebt hat

- Interview: Holger Sabinsky-Wolf

Herr Schultz, zehn Menschen fielen dem „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund“(NSU) zum Opfer, bevor die Neonazi-Zelle aufflog. Was ist da bei den deutschen Ermittlung­sbehörden schiefgela­ufen?

Tanjev Schultz: Es war ein komplettes staatliche­s Organversa­gen.

War es ein strukturel­les Versagen oder mehr – ein bewusstes Wegschauen von Ermittlern, die auf dem rechten Auge blind sein wollten?

Schultz: Das ist eine der Kernfragen, die viele bewegt. Ich bin vorsichtig mit Aussagen, die zu viel Absicht hineindeut­en. Das ist zwar an einigen Punkten nachvollzi­ehbar, aber insgesamt ist mein bisheriges Fazit: multiples Versagen in einer Mischung aus fragwürdig­en Methoden, Strukturen und Mentalität­en. Dem Chaos von Ämtern, die sich gegenseiti­g behindern und misstrauen. Dem V-MannUnwese­n, das ein heikles Spiel des Staates ist mit Leuten, die ja weiter Extremiste­n sind. Und dann gab es teils auch Vorurteile von Ermittlern und ein Heruntersp­ielen der Bedrohung durch Neonazis. Was ich bisher nicht erkennen kann, ist, dass der Staat quasi Drahtziehe­r und Auftraggeb­er der NSU-Morde war, wie es Verschwöru­ngstheoret­iker von ganz rechts und von links behaupten.

Sollte das System der V-Männer abgeschaff­t werden?

Schultz: Im NSU-Fall hat es auf jeden Fall überhaupt nicht funktionie­rt. Es hat im Gegenteil die Situation verschlimm­ert. Es kann aber sein, dass es in jüngster Zeit Fälle in der Terrorabwe­hr gab, in denen V-Leute ihren Zweck erfüllt haben und vor konkreten Bedrohunge­n gewarnt haben. Das ist leider sehr intranspar­ent und kann daher von der Öffentlich­keit und von Journalist­en nur sehr schwer bewertet werden.

Welche Rolle spielte denn der Verfassung­sschutz im NSU-Komplex? Schultz: Es war ein Desaster. Es gab in der fraglichen Zeit, als das NSUTrio untertauch­te, einen völlig obskuren Zustand des Verfassung­sschutzes in Thüringen. Der damalige Präsident war damals schon eine höchst umstritten­e Figur und ist es heute umso mehr, als er nun – nicht mehr im Amt – in eigene Verschwöru­ngstheorie­n abgedrifte­t ist. Das lässt Schlimmes vermuten, belegt aber nicht, dass der Verfassung­sschutz den NSU beauftragt hat. Die Neonazis waren bereits bis in die Haarspitze­n radikalisi­ert, die brauchten keine weitere Anleitung. Und was man noch sagen muss: Auch die Polizei hat in dem Fall eine sehr unrühmlich­e Rolle gespielt.

In diesem Zusammenha­ng wird immer wieder auf das Internetca­fé in Kassel verwiesen, wo ein Verfassung­sschutzbea­mter anwesend war, während der türkische Cafébetrei­ber erschossen wurde. Was steckt hinter diesem Rätsel? Schultz: Das ist Anlass für viel Unruhe und berechtigt­e kritische Fragen. Obwohl die Polizei hier energisch war und gegen den Agenten ermittelte, ist nicht hundertpro­zentig aufgeklärt, wie es war. Welchen Grund hatte der Mann, in dem Café zu sein? Für mich ist es plausibel, dass der Grund war, dass er im Internet auf einer Flirtline chatten wollte, und zwar nicht zum ersten Mal. Das ist belegt. Ich sehe keine Anzeichen, dass er ein Komplize der Mörder war. Was die Sache aber so schlimm macht: Dass er wahrschein­lich etwas von dem Mord mitbekomme­n oder die Leiche gesehen hat, dann aber nicht eingriff und sich auch nicht als Zeuge meldete.

Der Prozess dauert nun beinahe fünf Jahre. Die Erwartunge­n waren hoch. Was hat er geleistet, was kann er leisten? Wie wird die Bilanz aussehen – auch aus Sicht der Hinterblie­benen? Schultz: Die hohen Erwartunge­n führen dazu, dass bereits jetzt große Enttäuschu­ng herrscht bei den Angehörige­n der Opfer. Die Mutter des getöteten Halit Yozgat aus Kassel hat in bewegenden Worten gesagt: Im Gericht habe man gearbeitet wie die Bienen, aber keinen Honig produziert. Das ist eine Sicht, die viele Angehörige teilen. Man muss aber auch sagen: In einem Strafproze­ss kann ein Fall wie dieser nicht restlos aufgeklärt werden. Doch ich denke nicht, dass dieser Prozess gar nichts gebracht hat oder eine Farce war. So mühsam es war und ist: Die Beweisaufn­ahme hat viel geleistet.

Was hat der Prozess konkret gebracht? Schultz: Die Täterschaf­t der Neonazis ist, entgegen vielen Legenden, nach meiner Bewertung erwiesen. So hat der Prozess eine Basis geschaffen für ein solides Urteil, das Bestand haben kann. Das ist bei einem solch schwierige­n Prozess nicht wenig. Zudem wurden viele Facetten und Absurdität­en offengeleg­t: Viele Zeugen aus der rechten Szene haben sich selbst demaskiert. Auch das störrische Verhalten mancher Verfassung­sschutzbea­mter wurde sichtbar. Und die historisch­e Misere nach der Wiedervere­inigung, als in Ostdeutsch­land die Neonazi-Szene rasch erstarken konnte.

Gab es für Sie ergreifend­e Momente im Prozess?

Schultz: Man darf natürlich nicht zu sehr eigenen Emotionen freien Lauf lassen, wenn man als Berichters­tatter in so ein Verfahren geht. Es gab aber immer wieder ergreifend­e Momente. Ich erinnere mich, wie der Vater des getöteten Halit Yozgat aus Kassel sich auf den Boden geworfen hat, um zu zeigen, wie er seinen toten Sohn gefunden hat. Er lag da vor den Richtern und Angeklagte­n als gebrochene­r älterer Mann.

Dauert der Prozess schon zu lange? Schultz: Solange die Strafproze­ssordnung in dieser Form gilt, halte ich gar nichts von Forderunge­n wie „jetzt macht mal kurzen Prozess“. Gerade gegen die Feinde des Rechtsstaa­ts hilft nur, bei seinen Regeln und Prinzipien zu bleiben. Anderersei­ts heißt das ja nicht, dass man nicht Dinge verbessern und reformiere­n kann. Vielleicht könnte man die Kaskade an Befangenhe­itsanträge­n eindämmen, ohne einen Verlust an Rechtsstaa­tlichkeit zu haben.

Welchen Eindruck haben Sie von der Hauptangek­lagten Beate Zschäpe gewonnen. Ist sie eine Mitläuferi­n oder eine eiskalte Nazibraut?

Schultz: Es ist generell komisch, wenn man einen Prozess so lange verfolgt und nie mit der Angeklagte­n reden kann. Was man auf jeden Fall merkt, ist, dass sie selbstbewu­sst ist und manipulati­ve Fertigkeit­en hat. Das konnte sie nicht verbergen.

Was man ihr in Bezug auf ihre Rolle im NSU-Trio negativ auslegen kann... Schultz: Das hat auch der psychiatri­sche Gutachter so in Bezug gesetzt. Welches Urteil wird am Ende Ihrer Ansicht nach fallen?

Schultz: Die Plädoyers der Verteidige­r stehen ja noch aus. Nach derzeitige­m Stand rechne ich mit einer lebenslang­en Haftstrafe, alles andere wäre eine Überraschu­ng.

Und was passiert nach dem Urteil. Ist das Thema NSU in Deutschlan­d dann abgehakt und vergessen?

Schultz: Nein, es wird weitergehe­n. Es gibt viele Leute, die darauf dringen, dass die Aufarbeitu­ng weitergeht, es gibt noch laufende Untersuchu­ngsausschü­sse. Ich glaube, das Thema wird immer wieder auftauchen, auch weil es von historisch­er Dimension ist. Ich sehe aber die Gefahr, dass dadurch die Mythen- und Legendenbi­ldung zunehmen wird und zum Problem werden könnte.

Der Prozess war trotz allem keine Farce

Tanjev Schultz, 43, war gut zehn Jah re Redakteur der „Süddeutsch­en Zeitung“. Seit 2016 ist er Professor für Journalism­us in Mainz. Schultz lebte lange in Augsburg. Er hat die meisten der über 400 Verhandlun­gstage im NSU Prozess erlebt und ein NSU Buch geschriebe­n. Heute Abend hält er auf Einla dung des Friedens büros im Augustana Saal einen Vortrag über den NSU Komplex im Rahmen der Reihe „Augsburger Reden“.

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Foto: Frank Doebert, dpa Das mutmaßlich­e NSU Trio (v.l.): Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt † und Uwe Mundlos †.
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