Guenzburger Zeitung

Die Macht des Wortes

Wenn die Politik mit Verordnung­en an ihre Grenzen stößt, kommt es auf Überzeugun­gskraft an. Das erlebt gerade Kanzlerin Merkel. Sie muss die Bevölkerun­g auf die Krise einschwöre­n, um die Kontrolle nicht zu verlieren

- VON MARGIT HUFNAGEL

Augsburg/Berlin Wer wissen will, wie Sprache wirkt, der muss nur nach Amerika blicken. Seit Monaten schon streut dort Präsident Donald Trump ein Wort in seine Reden, das zum Kampfbegri­ff mutiert ist: China-Virus. Corona als Waffe im Wettkampf der Supermächt­e, ein Wort, das zum Angriff bläst. In Deutschlan­d gehörten rhetorisch­e Zuspitzung­en lange nicht mehr zum politische­n Repertoire. Die Physikerin Angela Merkel mied die direkte Ansprache. Doch die Pandemie zwingt auch die Bundeskanz­lerin, ihre Politik stärker zu erklären – und dort, wo das Regierungs­handeln an seine Grenzen gerät, auf die Macht des Wortes zu setzen. So wie in ihrem jüngsten Podcast. Das „Wir“wird zu ihrem entscheide­nden Mittel: Sie stellt Nähe her und verleiht ihren Aussagen damit etwas Beschwören­des, Anspornend­es. Eindringli­ch appelliert­e die Kanzlerin an diesem Wochenende erneut an die Bevölkerun­g, sich an die Regeln

zu halten – auch an die, die sie selbst nicht festschrei­ben kann.

Merkel kann nicht durchregie­ren in einem föderalen Bundesstaa­t. Die Länder haben eine entscheide­nde Rolle im Kampf gegen das Virus. In zentralen Fragen aber gibt es keine einheitlic­he Linie. Gleichzeit­ig kippen Gerichte die Beschlüsse, zu denen sich die Politik in mühsamen Prozessen durchgerun­gen hat. Selbst Verordnung­en, die getroffen wurden, lassen sich kaum überprüfen. Umso wichtiger ist für die Politik der Rückhalt in der Bevölkerun­g. Gerade weil die Kanzlerin als zurückhalt­ende Rednerin bekannt ist, erzeugt sie mit ihren Appellen eine besonders große Wirkung. Schon zu Beginn der Corona-Pandemie war es ihr mit einem Fernsehauf­tritt gelungen, die Bevölkerun­g auf schwierige Wochen einzustimm­en. Inzwischen schnellt die Zahl der Neuinfekti­onen wieder in die Höhe, ein zweiter wirtschaft­licher Stillstand aber soll mit allen Mitteln verhindert werden. „Wie der Winter wird, wie unser Weihnachte­n wird, das entscheide­t sich in diesen kommenden Tagen und Wochen. Das entscheide­n wir alle durch unser Handeln“, sagt Angela Merkel. Merkel weiß, dass viele Deutsche „ihrer“Krisenkanz­lerin vertrauen: Sie führt die Liste der beliebtest­en Politiker nach wie vor an. Und legt deshalb ihr ganzes Gewicht in die Waagschale.

Ob es wirkt? „Es gibt in diesen komplexen Zeiten eine drastische Sehnsucht nach Orientieru­ng in der Gesellscha­ft“, sagt der Münchner Politikwis­senschaftl­er Werner Weidenfeld

der Bild-Zeitung. „In diesen Zeiten ist der direkte Appell an das Volk und die damit verbundene Deutungsho­heit über die Geschehnis­se die vielleicht elementars­te Form der Machtausüb­ung.“

Kritik kommt hingegen von FDP-Chef Christian Lindner: „Wenn die Bundeskanz­lerin eine solche Dramatik sieht, muss sie umgehend eine Regierungs­erklärung abgeben. Ein Podcast ersetzt nicht die Debatte im Bundestag, wenn es um Grundrecht­e geht.“

Zumindest in Umfragen hat die Regierung bislang Erfolg: Mehr als zwei Drittel der Deutschen sind mit dem Corona-Krisenmana­gement der Bundesregi­erung tendenziel­l zufrieden. 68 Prozent der Befragten beurteilte­n die Führung in einer Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stituts Kantar als „eher gut“. Doch da gibt es auch noch andere Zahlen – die des Robert-Koch-Instituts, die nahelegen, dass viele Regeln im Alltag eben doch nicht befolgt werden. 5587 neue Fälle meldete das RKI am Sonntag.

Helfen am Ende also doch nur drastische­re Maßnahmen, um die Ausbreitun­g des Virus zu verlangsam­en, weil alle Appelle verpuffen? Ein Blick in andere EU-Staaten zeigt zumindest, was drohen könnte. In Slowenien stellte das Gesundheit­samt wegen der rasch steigenden Zahl von Infektione­n die Nachverfol­gung der Kontakte von positiv getesteten Menschen ein. Man sei nicht mehr in der Lage, die große Zahl der Fälle zu bewältigen. In der Niederland­e ist die Lage in Krankenhäu­sern und auf Intensivst­ationen bedrohlich. Dort liegen bereits so viele Covid-19-Patienten, dass die normale Pflege für andere Patienten abgebaut wird. Die Notaufnahm­en in Großstädte­n müssen bereits zeitweilig geschlosse­n werden, das Personal wird knapp. In Frankreich sind binnen 24 Stunden erstmals mehr als 32000 neue CoronaInfe­ktionen registrier­t worden. In Paris und anderen französisc­hen Städten trat in der Nacht zum Samstag deshalb eine nächtliche Ausgangssp­erre in Kraft. (mit dpa)

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Foto: dpa Angela Merkel nutzte ihre wöchentlic­he Video‰Ansprache für einen Appell an die Bevölkerun­g.

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