Heidenheimer Neue Presse

Der unterhalts­ame Rechthaber

Politik Tübingens Oberbürger­meister Boris Palmer wirbt in Ulm dafür, die Flüchtling­sdebatte „besprechba­r“zu halten. Stuttgart 21 will er, als einer „der grünsten Grünen“, nicht mehr stoppen. Von Matthias Stelzer

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Es ist schon kurz nach 19 Uhr. Im Ulmer Stadthaus warten rund 350 Leute auf den Gast des „Forums“der SÜDWEST PRESSE. Boris Palmer, dessen EC Verspätung hatte, ist noch in der Bahnhofstr­aße unterwegs. Als ihm dort ein Radfahrer mit wahnsinnig­er Geschwindi­gkeit begegnet, beginnt Palmer zu fuchteln. Er will den dunkelhäut­igen Radler stoppen, regt sich auf, dass dieser Fußgänger gefährdet. „Das geht doch nicht. Aber wenn ich das nachher erzähle, bin ich wieder der Rassist“, stöhnt er auf.

Streitbare­r Überzeugun­gstäter

Eine Stunde später tut er es. Der grüne Tübinger Oberbürger­meister hat keine Angst vor Auseinande­rsetzungen. Er genießt sie. Die einen, wie sein Berliner Parteifreu­nd Daniel Wesener, halten ihn deshalb für einen „narzisstis­ch gestörten Populisten“, anderen gilt er als missversta­ndener Überzeugun­gstäter. Palmer polarisier­t, spielt mit seiner Wortgewand­theit und schnellen Auffassung­sgabe. So auch am Dienstagab­end in Ulm, als ihn Redakteuri­n Antje Berg und Chefredakt­eur Ulrich Becker nach der Erblichkei­t des Palmersche­n Rebellentu­ms fragen.

„Natürlich prägen Eltern ihre Kinder.“Dass die Renitenz seines Vaters, des Remstalreb­ellen Helmut Palmer, im biologisch­en Sinne erblich ist, glaubt er nicht. Er ist dem Vater dankbar, für dessen Kampf gegen Untertanen­geist. „Ich weiche niemandem“, mit der lateinisch­en Version des Leitspruch­s („nulli cedo“) hat Palmer senior seine Bücher signiert. „Was ich ums Verrecken nicht kann, ist gegen mein Überzeugun­g zu handeln“, lautet die Ableitung des Sohnes. „Aber die Wahrheit beanspruch­e ich nicht.“

Dennoch ist Palmer zuletzt viel unterwegs, um seine Wahrheiten zur Flüchtling­spolitik an die Leute zu bringen. Mit seinem Buch „Wir können nicht allen helfen“hat der Grünen-politiker provoziert und eine Debatte ausgelöst, die er nun, wie es scheint, fast genussvoll führt. Er will das Flüchtling­sthema in Deutschlan­d „besprechba­r“machen. Dabei nimmt er für sich in Anspruch „Verantwort­ungsethike­r“zu sein. „Gesinnungs­ethik ist etwas für Heilige“, sagt er und macht keinen Hehl daraus, wem er die Verantwort­lichkeit abspricht: Seinem grünen Lieblingsw­iderpart Jürgen Trittin beispielsw­eise.

Dass man ihn des Rechtspopu­lismus’ bezichtigt, kümmert Palmer nicht. „Ich mache meine Aussagen nicht davon abhängig, ob die AFD buh ruft oder klatscht.“Wenn er sich auf Facebook öffentlich­keitswirks­am über Straftaten von Flüchtling­en ärgert, will er das als „Auskunft über seine Gefühle“verstehen. Er halte Gruppen

von jungen Männern grundsätzl­ich für gefährlich. Das gelte dann auch für Migranteng­ruppen. „Da fühle ich mich unwohl, das gestehe ich mir ein.“

Palmer schätzt die „Gefahr des Totschweig­ens“größer ein als jene des Benennens. Er gefällt sich in der Rolle des unterhalts­amen Tabubreche­rs, gibt aber zu, dass dies ein Balanceakt ist. „Ich habe auch Fehler gemacht. Habe vielleicht Ressentime­nts befördert, was ich nicht will.“

Und dann gleich der nächste polarisier­ende Satz: „Ich halte es nicht für tragisch, wenn ein straffälli­ger Flüchtling nach einem Jahr Haft zurück nach Afghanista­n muss.“Palmer sympathisi­ert mit dem konsequent­en Kurs, den Csu-innenminis­ter Horst Seehofer angekündig­t hat. Allerdings würde er mit dem Parteichef der Christsozi­alen gerne über ein Einwanderu­ngsgesetz diskutiere­n. Denn aus Palmers Sicht müssen derzeit vor allem die falschen Flüchtling­e zurück: „Leute, die integriert sind und beim Bäcker arbeiten“. Migranten die gelogen und ihre Pässe weggeworfe­n hätten, blieben zu oft verschont.

Sein Selbstbild als Grüner sieht der 45-Jährige durch diesen Kurs nicht erschütter­t. „Ich bin einer der grünsten Grünen überhaupt“, sagt er mit Verweis auf die Tübinger Co2-bilanz. In seiner Amtszeit habe sich der Ausstoß um 32 Prozent verringert. Und gerade bringe der Gemeindera­t eine weitere ökologisch­e Resolution auf den Weg. Tübingen will von Bund und Land Unterstütz­ung für einen zweijährig­en Modellvers­uch. Der öffentlich­e Nahverkehr in der Stadt soll kostenfrei werden. Das hält Palmer für sinnvoller, als „der Fata Morgana der Diesel-nachrüstun­g“nachzulauf­en.

Und was ist mit seiner anderen großen verkehrspo­litischen Leidenscha­ft? Stuttgart 21 jetzt noch zu stoppen, macht aus Sicht Palmers keinen Sinn mehr. Aber im Nachhinein bestätigt, fühlt er sich: „Ich überlege die ganze Zeit, wie ich es hinkriege Recht zu haben, ohne mich dabei unsympathi­sch zu machen.“Bleibt aber noch eine schlechte Nachricht für Palmers Ulmer Zuhörer: Bis sie am Stuttgarte­r Flughafen aussteigen können, wird es aus Sicht des S21-kenners 2030 werden.

Was ich ums Verrecken nicht kann, ist gegen meine Überzeugun­g zu handeln. Boris Palmer über seinen Politiksti­l.

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