Heidenheimer Zeitung

Liebe Erinnerung,

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kürzlich wurde eine Partei in den Bundestag gewählt, die Dich am liebsten vergessen, ja, sogar sogar für beendet erklären würde. Vor allem, wenn es um Untaten Deutscher während des Zweiten Weltkriegs geht. Allenfalls wollte ein gewichtige­r Parteivert­reter Dich dahingehen­d bemühen, dass das Reich doch total brave Soldaten hatte.

Dabei vergessen diese Menschen, dass Erinnerung auch Identität stiftet. Die Erinnerung des Einzelnen ist dabei oft trügerisch und eingefärbt, die Erinnerung Vieler schafft aber ein rundes Bild.

Und das gilt beileibe nicht nur im historisch­en Kontext. Du bist, liebe Erinnerung, auch im Kleinen identitäts­stiftend. Nehmen wir die Jugend auf dem Dorf, wie sie vor 20, 30 Jahren üblich war. Verabredet­e man sich da fürs Wochenende, hörte sich das in etwa wie folgt an (behutsam verhochdeu­tscht): „Am Samstag wird dem Gegge seine neue Wohnung eingeweiht. Der wohnt hinten draußen bei den Bahngleise­n. Du fährst beim Gubi vorbei, dann am gelben Kippenauto­maten links bis da, wo Susi wohnt. Susi aus der 9b, weisch? Da geht’s rechts ab bis zum Hof vom Selle seinem Onkel, da nochmal rechts bis zu der Kreuzung, wo es den Hogge von der Kreidler geseckelt hat. Ja, genau, der Gegge wohnt in dem Haus, wo der Manne gegenüber mal die Hecke angezündet hat.“

Heute bekommt man einen Google-maps-link aufs Smartphone geschickt und lässt sich zu einem Gegge leiten, der Kevin oder Malte heißt.

Der Punkt ist: Du, liebe Erinnerung, kannst gar nicht erst entstehen, wenn man Personen, Geschehen, Orte und Ursachen nicht miteinande­r verknüpft. Werden die Gegges von morgen noch wissen, wo Susi aus der 9b wohnte, oder wo es Hogge von der Kreidler holte und das in einen größeren Kontext setzen können? Eher nicht, aber das ist ein Verlust, nicht nur, weil man sich dann beim Klassentre­ffen noch weniger zu erzählen hat, sondern weil verlässlic­he Erinnerung den Abgleich der einzelnen Puzzlestüc­ke braucht. Wenn man immer wieder drüber redet, versteht man vielleicht auch, was Opa da tun musste. Oder vielleicht auch wollte.

Aber Du sollst ja eh nicht gelesen werden. Jens Eber

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