„Was soll ich denn bereuen?“
Musikalische Lesung Schauspieler Martin Semmelrogge las im vollbesetzten Herbrechtinger Kloster aus seiner selbstironisch durchgefärbten Autobiographie – Gitarrist Mutz unterstützte ihn dabei. Von Manfred Allenhöfer
Direkt aus Mallorca, wo er einen seiner Wohnsitze hat, war Martin Semmelrogge nach Herbrechtingen gekommen. Mit dem Flieger frisch in Köln gelandet, hatte der Schauspieler, der mit der Staatsgewalt schon mehrfach in ungütlichen Kontakt getreten war, nicht zuletzt wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis oder wegen Drogenbesitzes, sich von einer blonden Fahrerin zu seiner Lesung ins Kloster bringen lassen.
Die beiden übernachteten in Herbrechtingen, gestern ging’s dann wieder nach Köln, wo der erfolgreiche Akteur in der „Rocky Horror Show“einige Auftritte hat.
Im vollbesetzten Karlsaal las Semmelrogge aus seiner Autobiographie „Ein wilder Ritt durch 60 Jahre Paragraphistan“– eine, wie er den Band selbstironisch selber qualifizierte, „tolle Chronik. Nicht nur meine Biographie, sondern auch Zeitkolorit“. Und er sei dankbar, wenn man den Eindruck gewinnen könne, dass das „nicht nur unterhaltsam ist, sondern auch ein bisschen Tiefgang hat“. Überhaupt: Semmelrogge zeigte sich eher spitzbübisch als ostentativ taff oder gar patzig.
Lesung mit Musik
Semmelrogge war freilich nicht allein auf der Bühne. Aus Norddeutschland angereist war der Musiker „Mutz“, über den vermittelt der Herbrechtinger Bibliothekar Thomas Jentsch, in seiner Freizeit ein überzeugter Heavy-rocker, den Termin mit Semmelrogge festklopfen konnte.
Mutz und „Martin“wechselten sich im Vortrag ab; sie spielten sich dabei, oft genug augenzwinkernd, die Bälle zu – nicht nur verbal. Immer wieder holte Mutz kleine bunte Plastikkistchen vors Mikro, die kommentierende Geräusche zu Semmelrogges Texten von sich gaben. Oder er unterlegte mit seiner Gitarre Passagen der Lesung.
„Du kannst super singen und gut Gitarre spielen“, lobte der 61-Jährige seinen musikalischen Partner; „wir ergänzen uns gut“. Dabei wurde immer wieder erkennbar improvisiert – zum gegenseitigen Vergnügen und zu dem des altersmäßig gut durchmischten Publikums.
Mutz saß mit seiner elektrisch verstärkten Gitarre auf einem Hochhocker, mit „Mutz“-t-shirt, Tattoos an Armen, Hals und über den Ohren, Ringe in Ohren und Unterlippe. Selbstbewusst und doch dienend spielte er seinen auflockernden Part bei dieser Lesung, die brutto zweieinviertel Stunden dauerte.
Stadtbibliothekar Thomas Jentsch hatte, wie üblich, das Publikum im Karlsaal begrüßt – vollbesetzt dank eines „enorm prominenten Menschen“, dem er erstmals in der Verfilmung von „Das Boot“begegnet sei und den er bis heute, mit seinen Kindern, etwa aus den „Vorstadtkrokodilen“, beständig vor Augen habe.
Semmelrogge freute sich, „wieder einmal in meiner alten Heimat“zu sein. Denn der produktive Spieler wuchs die ersten Jahre seines Lebens in Eckwälden bei Bad Boll unweit des Hohenstaufens im Nachbarkreis Göppingen auf.
„Du Seggl“
Stilecht schwäbisch begrüßte er seinen Kollegen Mutz auf der Bühne und stimmte damit auch schon mal auf die folgenden Haupttonlage ein: „Oh Heimatland – schwätz’ net so viel. Spiel liebr, du Seggl“.
Semmelrogge begann mit einer Episode aus München, wo er als Jugendlicher aufwuchs und „durch die schwierigste Phase meiner Pubertät“ging: „Ich wäre so gern ein Hippie gewesen – oder wenigstens so einer wie Gunter Sachs“, Playboy und „begnadeter“Fotograf und im übrigen mit der sonderschönen Brigitte Bardot liiert.
„Meine Realität aber war eine ganz andere:“Er sei Schüler der Münchner Waldorfschule gewesen, wo er sich mit wollstrumpfbewehrten Lehrern über die Länge seiner Haare gestritten habe.
Eine verlockende Gegenwelt habe sich für den heranwachsenden im sportlichen BMW 1800 seines Vaters, eines ebenfalls vielbeschäftgten Schauspielers, kristallisiert. Nach einer unerlaubten Spritztour des 13-Jährigen sei der „liebe Scholli“zum „Synonym für böser Martin“geworden. Der durfte dann in der Folge auch „erstmals vor Gericht erscheinen“: Zehn Mark habe ihn das gekostet. Und der Richter habe abschließend prognostiziert, „man werde mich wohl wieder einmal sehen vor Gericht. Und Richter haben ja immer recht.“
Das Urteil des nicht unbedingt altersweise wirkenden Semmelrogge: „Ich hatte viel Glück im Leben, bis auf ein paar dunkle Jahre.“Aber: „Was soll ich bereuen?“Die Zeiten seien halt wild – und das seien sie „früher schließlich auch schon gewesen. Wer keine Träume und Ideale mehr hat, existiert nicht mehr.“
„Vollgas den Aichelberg runter“
Mit einem gewissen Behagen erinnerte er sich an seine frühen Jahre am Fuß der schwäbischen Alb, wo er auch „mein erstes Mopped“fuhr – immer Vollgas den Aichelberg hinab. Er habe eine „schöne Kindheit“gehabt, die aber, wie er beispielbewehrt glaubhaft machte, nicht ohne Fährnisse war.
Die 70er Jahre waren prägend für den Ende 1955 geborenen Semmelrogge, sie waren „Jahre des Erfolgs und Jahre der Abstürze“. Hippie habe er sein wollen und Revoluzzer: „Wir führten uns aber auf wie Proleten, nicht wie Proletarier“, erinnert er sich selbstkritisch etwa an linkspolitisch inspirierte Demonstrationen.
Nach einer Pause („zum Nachtanken“; er selber begnügte sich auf der Bühne freilich mit einer Mischung aus Wasser und Energydrink) las Semmelrogge noch einen Text des legendären Us-popjournalisten Hunter S. Thompson, in dem es, das darf man als autobiografisch stimuliert sehen, um eine Highwayfahrt unter bewusstseinseintrübenden Mittelchen ging.
Auf die (angekündigte) Lesung von Texten Lemmy Kilmisters („Motörhead“) verzichtete er. „Ihr wart ein super Publikum“, sagte er abschließend, um sich dann ganz konventionell zu verbeugen mit Mutz, der meinte: „Ich pack’ die Gurke weg – und dann verabschieden wir uns ganz anständig.“