Weißes Wunderland unter mediterraner Sonne
Fleur de Sel aus der Camargue gehört zu den besten Salzen der Welt – Touristen können beim Abbau zuschauen
J etzt fehlen nur noch die Skiläufer, die Slalomstangen und ein Lift. Wie verschneite Alpengipfel liegt ein halbes Dutzend silberweiß glitzernder Hügel unter dem südlichen Himmel, dahinter zieht sich ein weißgrauer Bergrücken mit scharfem Kamm. Zu seinen Füßen erstrecken sich weite, weiße Ebenen, wie gemacht für Langläufer. In kleinen Seen scheinen Eisschollen zu treiben, die Ufer tragen überzuckerte Ränder, als wäre über Nacht der erste Frost eingefallen.
Salzberg statt Skipiste
Doch jetzt hält mitten in der vermeintlichen Winteridylle ein kleiner Zug. Touristen in Shorts und bunten Sommerhemden klettern heraus, erklimmen schnaufend die breite Piste zum Gipfel und schon ist der Moment winterlicher Verzauberung vorbei. Denn die Erhebungen und Senken des weißen Wunderlandes sind nichts anderes als die Salzberge und –becken der Saline du midi. Vom 20 Meter hohen Aussichtspunkt geht der Blick weit nach allen Seiten: Im Norden erhebt sich, nur manchmal im Dunst auszumachen, der provenzalische Mont Ventoux, mit seinen 1912 Metern und den steilen Kehren gefürchtet von allen Tour-de-France-Fahrern. Im Osten erstreckt sich die langgezogene Stadtmauer von Aigues-Mortes, und das Blau im Süden, in dem sich der Horizont auflöst, ist das Mittelmeer.
Alles Mattfarbene rundum aber entpuppt sich als Salz. Die Berge heißen Camelle. Sind sie weiß, bestehen sie aus Speisesalz, die grauen sind Streusalz, in den mal bläulich, mal rosa schimmernden Becken verdampft Meerwasser.
Schöne Kristalle am Ufer
Mitten im Herzen dieser Kunstlandschaft in Südfrankreich gehen seit sechs Uhr morgens zwölf junge Männer ihrer Arbeit nach. In Gummistiefeln stehen sie in einer Reihe im flachen Wasser eines weiten Beckens, ein, zwei Meter vom Ufer entfernt. Mit breiten Schaufeln schieben sie eine körnige Masse zum Rand hin und häufen das sülzige Wasser-SalzGemisch auf eine Palette. In der Lagerhalle tropft das Salz in Plastiksäcken zehn bis zwölf Monate ab und verliert ein Viertel seines Gewichts. 20 000 Euro ist der Inhalt eines solchen 900-Kilo-Sacks wert, wenn er in Dosen und Säckchen mit dem Aufdruck „Le Fleur de Camargue“oder „La Baleine“abgefüllt wird.
Salz ist, wie schon Pythagoras sagte, „von den reinsten Eltern geboren, der Sonne und dem Meer“. Das Wasser kommt aus dem zehn Kilometer entfernten Mittelmeer und durchläuft ein sechzig Kilometer langes, schneckenförmiges Labyrinth aus Kanälen, Teichen und Becken. Täglich wird Wasser eingelassen, denn die heißen Nachmittagstemperaturen und der trockene Mistral lassen nach und nach neunzig Prozent davon verdunsten.
Wenn es ab August soweit herangereift ist, wird die Masse in den Becken mit einer Maschine zusammengeschoben. Im allerletzten Becken aber, in dem die jungen Männer zugange sind, bleibt das Wasser sogar ein Jahr stehen. Und hier setzen sich an den flachen Ufern die schönsten Kristalle, das wertvollste Salz, ab: Fleur de Sel, die „Salzblume“.
Die Saline liegt vor den Toren der Stadt Aigues-Mortes – und das im wortwörtlichen Sinn: Sieben Tore und Türme ragen allein aus dem südwestlichen Teil der Stadtmauer, sechzehn sind es insgesamt auf den eineinhalb Kilometern, die die Stadt im Viereck umschließen. Ab 1240 ließ König Ludwig der Heilige als erstes Befestigungswerk den Tour de Constance errichten, einen 33 Meter hohen, runden Klotz mit 22 Metern Durchmesser. Auf seiner Spitze thront als Ausguck ein kleines Türmchen, das Innere erinnert an eine gotische Taucherglocke.
Viel, viel später sollte dieses Gebäude in ganz Frankreich noch einmal grausige Berühmtheit erlangen. 1730 wurde die 15-jährige Protestantin Marie Durand für 38 Jahre hier eingekerkert. Ihr einziges Verbrechen bestand darin, ihrem Glauben nicht abzuschwören.
Tor zur Camargue
1856 schlossen die Salzbauern der Region sich zu einer Kooperative zusammen und legten erste künstliche Becken an. Noch bis zum zweiten Weltkrieg wurde alles Salz in Handarbeit gewonnen. Das Museum der Saline zeigt Spaten, mit denen die Salzschollen vom Grund gelöst wurden und Körbe, in denen die Arbeiter sich Fünfzig-Kilo-Lasten auf den Kopf wuchteten. Später erleichterten Schubkarren die Schufterei, schließlich fuhren Loren auf Schienen.
Heute wohnen in dem von der Mauer umschlossenen Geviert 2500 Menschen. Die Straßen sind schachbrettartig angelegt, vor den höchstens dreistöckigen Häusern wachsen Clematis und Rosen. Auf dem Place Saint Louis mitten im Zentrum wacht seit 1849 Ludwig der Heilige im Kettenhemd auf seinem Sockel über die Cafés und Restaurants und lässt sich auch nicht in den lauen Sommernächten aus seiner bronzenen Ruhe bringen, wenn eine Band den ganzen Platz lauthals beschallt.
Aigues-Mortes lebt vornehmlich von den Touristen, die es als Tor zur Camargue nutzen. Im Ausflugsboot oder mit dem Fahrrad wagen sie sich in das Gewirr von Dünen, Kanälen, Salzwiesen und Tümpeln, bestaunen die berühmten schwarzen Stiere und die noch legendäreren weißen Pferde und halten Ausschau nach Seidenreihern, Ibissen und rosa Flamingos.
Abends kehren sie ins Städtchen zurück, füllen die Lokale und bezahlen mit der einheimischen Kunstwährung „Flamant“, die eins zu eins mit dem Euro getauscht wird und deren Scheine Stiere, Pferde und Flamingos zieren. Heimische Spezialitäten sind jetzt gefragt. Die Wirte stellen Tapenade aus schwarzen Oliven und Sardellen auf den Tisch, Brandade du moru, eine Stockfischcreme, Boeuf gardian, das Gulasch vom hiesigen Stier und am Ende Fougasse, einen Hefekuchen. Der Hingucker aber ist immer ein „Loup entier en croûte de sel“, ein ganzer Wolfsbarsch – in der Salzkruste gebacken, versteht sich.