Helfen statt Chillen
Wie Zehntausende von Freiwilligen zum erfolgreichen Impfprogramm Englands beitragen
- Dem klinischen Praktikum hatte der neuerliche Lockdown eine Ende gesetzt, das Medizinstudium konnte nur auf Sparflamme weitergehen. Deshalb zögerte Leona Leipold keine Sekunde, als Anfang Januar ihre Mentorin anrief: Ob sie beim Covid-Impfprogramm mithelfen könne? „Ich sagte sofort zu“, erinnert sich die Studentin beim Gespräch in einem Londoner Park.
Viele der nötigen Fortbildungen, etwa in Erster Hilfe sowie dem Umgang mit verschüchterten oder aufsässigen Patienten, absolvieren Beschäftigte und Auszubildende im Nationalen Gesundheitssystem NHS (National Health Service) ohnehin routinemäßig jedes Jahr. Für Leipold kam eine eintägige Impfschulung hinzu. Seither radelt sie dreimal die Woche eine halbe Stunde in den West-Londoner Stadtteil Ladbroke Grove.
In der dortigen St. Charles-Poliklinik versorgen die örtlichen Arztpraxen an unterschiedlichen Wochentagen ihre Patienten mit der Immunisierung gegen Sars-CoV-2. Täglich kommen bis zu 700 Menschen, um die erste Dosis des Vakzins von Biontech-Pfizer oder Astra-Zeneca zu erhalten – landesweit sind es bis zu eine halbe Million am Tag.
Und die Impfwilligen werden immer jünger: Anfang vergangener Woche verkündete Premierminister Boris Johnson stolz, man habe seit 8. Dezember mehr als 15 Millionen Menschen über 70 Jahre sowie das Personal im Gesundheitswesen und Pflegedienst behandelt. Bis zum vergangenen Wochenende waren drei Viertel der Altersgruppe zwischen 65 und 69 Jahren hinzugekommen. Schon ist in Regierungskreisen davon die Rede, man werde bis Mitte April allen über 50-Jährigen sowie medizinisch Vorbelasteten jüngeren Alters die Erstdosis anbieten können. Und das zeitgleich mit der von März an fälligen Zweitdosis bei all jenen, die den ersten Pieks längst hinter sich haben. Bis Ende Juli sollen sämtliche Erwachsenen auf der Insel immunisiert sein.
Neben der frühzeitigen Beschaffung von vielen Millionen Dosen, deren rascher Genehmigung durch die Arzneimittelbehörde MHRA und der zentralistischen Struktur des NHS zählen die zahlreichen Freiwilligen zu den Erfolgsfaktoren des britischen Impfprogramms. Als die Verantwortlichen die Bevölkerung zum Dienst aufrief, meldeten sich binnen weniger Tage Zehntausende von
Kurzarbeitern, Studentinnen und Pensionisten für den Dienst, der Abwechslung vom langweiligen Lockdown versprach.
Mithilfe der Krankentransportorganisation St. John Ambulance und des Königlichen Freiwilligendienstes RVS wurden sie ausgebildet, zunächst überwiegend für Unterstützerrollen wie die Ausweisung geeigneter Parkplätze, die sorgfältige Reinigung der Impftische und die Begleitung der Geimpften im Ruheraum. Inzwischen können sich Interessierte in Schnellkursen auch für das Gespräch mit den Patienten über Vorerkrankungen und mögliche Allergien sowie den Dienst an der Nadel ausbilden lassen.
Leona Leipold hat bereits mehr als 200 Patienten geimpft. „Die meisten sind so dankbar, das ist sehr anrührend“, erzählt sie. Die Londonerin mit deutschen Wurzeln wuchs in Kenia auf, ehe sie zum Studium in die britische Hauptstadt zurückkehrte. Die Ferien verbrachte sie stets bei den Großeltern im schwäbischen Rot an der Rot – unverkennbar enthält ihr perfektes Deutsch mundartliche Anklänge, wie etwa „Isch gut“.
Wenn es um medizinischen Fachjargon geht, verfällt sie übergangslos ins Englische – und spricht dann mit großem Ernst über ihr Anliegen der Gesundheitsversorgung für alle. „Die Pandemie hat die enormen sozialen Unterschiede in der Gesellschaft verdeutlicht. Wir müssen deshalb besonders auf benachteiligte Gruppen zugehen.“
Diesem Ziel dient eine neue Aktion namens „Vaxi Taxi“: Sonntag vor zwei Wochen war Leipold erstmals mit einem der berühmten schwarzen Taxis unterwegs. Sie parken vor Nachbarschaftszentren, Synagogen und Moscheen, um bisher Zögerliche zur Impfung zu bewegen. NHS-Statistiken zufolge leisten beispielsweise die Angehörigen ethnischer Minderheiten ihrer Einladung zur Immunisierung deutlich seltener Folge als die weiße Bevölkerung. So haben sich etwa in Großbritannien, anteilig an der Bevölkerung, doppelt so viele Weiße impfen lassen wie Schwarze.
Freiwillig zum Impfdienst in ihrem lokalen Krankenhaus meldete sich bereits im Dezember auch eine in London lebende deutsche Ärztin. Allerdings wurde die Neurologin schon bald gebeten, stattdessen doch lieber auf der Intensivstation auszuhelfen, wo im Januar Covid-Notstand herrschte. „Das habe ich natürlich gemacht, wie viele Chirurgen und Kinderärzte auch.“Die Flexibilität des Systems empfindet die erfahrene Praktikerin als großen Vorteil des NHS, auch bei der Rekrutierung Freiwilliger für das Impfprogramm: „Ich kenne viele Wissenschaftler anderer Fachrichtungen, die den Schnellkurs gemacht haben und jetzt in ihrer Freizeit beim Impfen helfen.“
Das instinktive Vertrauen der Briten auf den Gemeinschaftssinn des NHS sehen die erfahrene Ärztin und die Medizinstudentin übereinstimmend als Fundament des Impferfolgs. „Das war nur möglich, weil die Regierung die Umsetzung dem NHS überlassen hat. Ihr Gesundheitssystem erfüllt die Briten wirklich mit Stolz“, resümiert Leipold.