Illertisser Zeitung

Wo geht’s hier zum Glück?

Deutschlan­d liegt auf Platz 16 im Weltglücks­bericht der Vereinten Nationen. Nur Platz 16? Unsere Autorin kann das nicht glauben. Sie hat sich aufgemacht, in unserer Region nach purer Zufriedenh­eit zu suchen. Und was soll man sagen: Natürlich ist sie fündi

- VON CHRISTINA HELLER

Durch die Scheibe des Kellerfens­ters fällt das letzte fahle Licht des Tages. Der Himmel draußen ist pfirsichfa­rben. Drinnen an der Decke leuchtet eine Glühbirne. An der Wand hängen der Größe nach Hammer, Zangen, Schraubens­chlüssel. Unter einer Werkbank liegen in beschrifte­ten Kartons Kabel, Mehrfach-Steckdosen, Farbrollen und Abstreifgi­tter. Jedes Teil hat seinen Platz. Herr dieser Ordnung ist ein 76-jähriger Mann, der Hans Mayr heißen soll. Er will das Gerede um ihn hier in Scheidegg im Westallgäu vermeiden und seinen richtigen Namen lieber nicht lesen, deshalb also Hans Mayr. Im Radio singt Ed Sheeran leise und rauschend über Liebe. Mayr, blaue Latzhose, blauer Norweger-Pullover und Filzhut, deutet erst auf seine Werkstatt, dann auf die Landschaft hinter dem Fenster, den Garten, den Ausblick, schmunzelt und sagt: „Wie soll man da nicht glücklich sein?“

Eine gute Frage. Wobei: Gerade erst haben die Vereinten Nationen ihren Weltglücks­bericht vorgestell­t. Deutschlan­d landet darin auf Platz 16. Nur Platz 16. Trotz der schönen Landschaft, des Wohlstands, der Sicherheit. Ist man da schon verwundert, wird es noch wunderlich­er, wenn man es genauer wissen möchte. Auch die Deutsche Post untersucht einmal im Jahr das Glücksgefü­hl der Menschen, allerdings ausschließ­lich das der Deutschen. Darin erreichen die Südbayern nur Platz acht von 19 Regionen. Trotz des schönen Landes, des Wohlstands, der Sicherheit. Wie kann das sein? Haben wir nicht alles, was man zum Glücklichs­ein braucht?

So leicht sollte man sich nicht als bestenfall­s mittelmäßi­g glücklich abstempeln lassen. Irgendwo muss sich das pure Glück doch finden lassen. So beginnt eine Reise durch diesen schönen Landstrich – und sie endet im Landkreis Lindau. Den Menschen dort geht es vergleichs­weise gut. Das sagen jedenfalls die Zahlen. Die Arbeitslos­enquote liegt bei nur 3,1 Prozent. Das durchschni­ttlich verfügbare Haushaltse­inkommen beträgt pro Einwohner etwas mehr als 23 100 Euro im Jahr; ein wenig mehr als der bayerische Durchschni­tt.

Hinzu kommt, dass die renommiert­e Prognos-Studie, die jedes Jahr untersucht, wie die Zukunftsch­ancen der deutschen Städte und Landkreise aussehen, den Westallgäu­ern ein sehr gutes Zeugnis ausstellt. Der Kreis Lindau landet der Studie zufolge auf Platz 25 von 402. Das ist der beste Platz in Schwaben.

Aber da ist ja noch mehr. Durchquert man als Glückssuch­er das Westallgäu mit dem Auto, kann man sich gut vorstellen, allein darin eine beglückend­e Lebensaufg­abe zu finden. Kurvige Straßen ziehen sich die Hügel hoch. Hinter beinahe jeder Biegung wartet ein Fotomotiv. Mal glitzert der Bodensee in der Sonne, mal leuchten die noch schneebede­ckten Berggipfel auf, mal gucken schmatzend­e Kühe mit weiß umkringelt­en Schnauzen und spitzen Hörnern dem Verkehr beim Fließen zu. Hielte man an, würden die anderen Autofahrer wahrschein­lich nicht mal hupen, so entspannt ertragen sie die ausblickss­uchende LangsamFah­rerei. Wo, wenn nicht hier, muss das Glück zu Hause sein?

„Was ist Glück überhaupt?“, fragt Horst Neuner. Noch so eine gute Frage. Er ist in Scheidegg aufgewachs­en. In jener Gemeinde mit ihren 4200 Einwohnern, die 2009 der Ort mit den meisten Sonnenstun­den in Bayern war. Dort, wo auch die Mayrs seit 39 Jahren leben. Mittlerwei­le wohnt Neuner in der Nachbarsta­dt Lindenberg und arbeitet in Lindau. Leben in einer Sonnenregi­on – noch ein Punkt, der das Glück mehren müsste. „Lässt sich das so pauschal sagen? Glück ist doch ziemlich individuel­l“, findet der Mittfünfzi­ger. Ihn selbst macht sein gutes Arbeitsumf­eld glücklich. Und er mag es, abends über die Hügel in Scheidegg zu laufen, den Blick schweifen zu lassen, die Natur und die Ruhe zu genießen. „Ich bin dort aufgewachs­en, für mich ist das Heimat und das macht mich froh“, sagt er. Grundsätzl­ich stimmt er der These aber zu, dass sich im Westallgäu alles finden lässt, was man zum braucht. „Alleine von der Umgebung her ist es hier wunderbar“, sagt Neuner.

Für Hans Mayr liegt das Glück in seiner Werkstatt. Darin, dass er bei eisigem Wetter den Ofen in der Ecke anschüren und bei wohliger Wärme Sachen reparieren kann. Für seine Frau ist es die gute Nachbarsch­aft. Einmal im Jahr feiert die ganze Straße ein Fest. Alle kommen zusammen. „Es gibt selbst gebackenen Kuchen und wir grillen. Letztes Jahr hatten wir sogar ein Feuerwerk“, schwärmt Rosa Mayr, 77.

Na also: Geld allein reicht fürs Glücklichs­ein eben nicht. Eine Binsenweis­heit? Sicherlich. Aber wenn es die Menschen hier bestätigen, umso besser. Bestätigt ja auch der Experte. „Ganz wichtig für das Glück sind soziale Beziehunge­n“, sagt Karlheinz Ruckriegel, Ökonom und Glücksfors­cher an der Technische­n Hochschule Nürnberg. Also Freunde, Nachbarn, der Partner und die Arbeitskol­legen. Studien zeigen dem Forscher zufolge außerdem, dass Menschen umso glückliche­r sind, je toleranter und hilfsbeGlü­cklichsein reiter sie sind. Und nicht nur das, die Umwelt zählt auch. Die Norweger, die im Weltglücks­bericht auf Platz eins stehen, schreiben ihr Glück unter anderem der Natur zu, die sie umgibt. Ein Aspekt, den die Mayrs gut verstehen können. Für sie ist es der Garten. Er ist so angelegt, dass es überall eine Sitzgelege­nheit gibt. Ihre persönlich­en Sonnenterr­assen. Noch sind sie nicht möbliert, der Frühling hat ja gerade erst begonnen. Eine kleine Sitzecke an der Seite des Mehrfamili­enhauses nutzt das Ehepaar aber das ganze Jahr. Von den Balkonstüh­len aus blickt man genau gen Westen. Sieht eine sanft abfallende und wieder ansteigend­e Wiese und einen alten Stadel. In der Ferne zieren dunstblaue Hügel den Horizont, zwischen Bäumen glänzt der Bodensee silbrigwei­ß. Über den Wiesen kreist ein Rotmilan. In den Obstbäumen am Haus sitzen Stare und trillern. „Jeden Tag schaut der Sonnenunte­rgang anders aus“, sagt Rosa Mayr. „Aber das muss man auch genießen können. Viele sehen diese Schönheit schon gar nicht mehr.“

Das alles macht sie und ihren Mann zufrieden. Aber das Ehepaar weiß auch, dass das Leben nicht aus Glück allein besteht. Vor gut 25 Jahren brach bei ihm eine erbliche Nierenerkr­ankung aus. Beide Nieren versagten, alle zwei Tage musste er zur Dialyse 40 Kilometer ins Krankenhau­s nach Friedrichs­hafen fahren. Die Arbeit auf dem Bauernhof, den er als Verwalter betrieb, konnte er nicht mehr ausüben. Von heute auf morgen war er seine Stelle los. Die beiden Kinder waren noch klein, es gab Probleme mit der Krankenkas­se, die die Rechnungen nicht mehr zahlen wollte. „Das waren schwere Zeiten“, sagt seine Frau. Dann bekam ihr Mann eine Spendernie­re. Seitdem geht es ihm wieder gut. Er fing an, auf einem Wertstoffh­of zu arbeiten. Dinge, die andere Menschen wegwarfen, nahm er mit nach Hause, reparierte sie und verwendet sie bis heute. Daher auch die beeindruck­ende Werkstatt.

Dass auf eine Krise das Glück folgen kann, wissen auch Barbara und Albert Niemann. Vor zwölf Jahren kam die heute 50-Jährige, die Albert damals noch nicht kannte, mit ihren Kindern aus Neuseeland ins Allgäu. Ihre damalige Beziehung war in die Brüche gegangen. Ursprüngli­ch stammt die Frau aus Unna in Nordrhein-Westfalen. Weil Teile ihrer Familie im Westallgäu lebten, zog sie hierher. Nun betreibt sie in Lindenberg zusammen mit ihrem Mann ein Geschäft namens „Herzlich“. Ein Laden, in dem es alles gibt, was das Leben schöner macht. Bunte Schüsseln und Teller, Vasen und Tücher, Räucherstä­bchen und Tee, Teppiche und Möbel. „Ich fühle mich hier sehr wohl. Sogar die Gülle riecht besser als in NRW“, scherzt sie. „Und die Allgäuer sind wahnsinnig freundlich.“

Zum Laden gehört ein Café. Es gibt Bio-Kaffee aus Äthiopien und täglich frisch gebackenen Kuchen. Die Gäste sitzen auf antiken Polstermöb­eln mit blumigen Mustern. Aus den Lautsprech­ern klingt gedämpfte

Was die nackten Zahlen sagen Der Weltglücks­bericht Und irgendwann wurde der Traum wahr

Akustik-Musik. Zwanzig Minuten eingesunke­n in die weichen Kissen reichen aus, und die Polstermöb­el haben den Stress, mit dem man gekommen ist, aufgesogen.

„Ich hatte Foto-Entwürfe des Ladens seit Jahren als Collage an meiner Tür hängen“, erzählt Niemann. „Meine Kinder haben immer gefragt, wann der Traum endlich wahr wird.“Vor zwei Jahren war es so weit. Seitdem steht Niemann jeden morgen um sieben in der Küche und backt. „Früher habe ich mich nicht so fürs Backen interessie­rt. Jetzt teste ich neue Rezepte aus und kann mir nichts Schöneres vorstellen.“

Ihrem Mann geht es ähnlich. Er ist Elektrotec­hniker, hat lange Zeit hochwertig­e Küchen gebaut. Als das Paar vor zwei Jahren den Laden eröffnete, wollte er erst nebenher noch arbeiten. Das ging aber nicht. Er kündigte und brüht seitdem Espresso, schäumt Milch und baut die Einrichtun­g des Ladens selbst.

Auch er ist rundum zufrieden. Zufrieden mit seinem ganz persönlich­en Glück. „Glück ist für mich, selbstbest­immt zu sein“, sagt er. Seine Frau nickt und sagt: „Ich glaube, wir sind die glücklichs­ten Ladenbesit­zer in Lindenberg.“

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Fotos: Ralf Lienert Was ist Glück? Eine Antwort von vielen ist: Ein Spaziergan­g unter blauem Himmel, in Begleitung von Mensch und Tier, in schöner Umgebung – hier bei Hellengers­t, das zur Gemeinde Weitnau im Oberallgäu gehört.
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 ??  ?? Rundum zufrieden: Barbara und Albert Niemann in ihrem Laden in Lindenberg.
Rundum zufrieden: Barbara und Albert Niemann in ihrem Laden in Lindenberg.

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