Petrus trägt im Münster Brille
In Ulm ist die älteste Glasmalerei zu sehen, die eine Sehhilfe zeigt. Auch die anderen Apostel haben Seh-Probleme
Petrus sieht schlecht und trägt deshalb eine Sehhilfe auf der Nase. Realistischerweise ist das unmöglich: Simon Petrus, einer der ersten Juden, die Jesus Christus in seine Nachfolge berief, lebte und starb im ersten Jahrhundert und damit zu einer Zeit, als Brillen noch unbekannt waren. Auf einem der Glasfenster in der Bessererkapelle am Ulmer Münster, die derzeit restauriert werden, trägt der Apostel dennoch zwei Gläser. Das nur 18 Millimeter große Detail befindet sich in der Darstellung der Grablegung Marias und ist die älteste bekannte Darstellung einer Sehhilfe in einer Glasmalerei – und damit ein Schlüssel zur Frühgeschichte der Brille, sagt der Ulmer Augenarzt Hans-Walter Roth, der die Abbildung im Rahmen der Restaurierungsarbeiten gründlich untersuchen konnte.
Die weltweit älteste bekannte Darstellung einer Brille findet sich in Treviso bei Venedig. Sie wird auf das Jahr 1352 datiert. Der allererste Guss einer wirklich durchsichtigen Linse war wohl um das Jahr 1270 gelungen – vermutlich in Murano bei Venedig. Etwa 20 Jahre später wurden erstmals zwei Gläser mit Haltern aus Holz oder Elfenbein verbunden und so eine Art Brille geschaffen. Diese Augenhilfe dürfte etwa zwei bis drei Dioptrien gehabt haben. Die auf Glas gemalte Nietbrille im Ulmer Münster entspreche dem frühesten Typus ihrer Art, wie sie bis 1420 verwendet wurden, sagt Roth. Ohne Zweifel hält eine Niete, ein plattgeschlagener Eisenstift, die geradlinig verlaufenden, aus Hartholz geschnitzten Stege zusammen und macht sie soweit beweglich, dass diese frühen Sehhilfen dem Abstand der Augen angepasst werden konnten.
Eine sehr anschauliche Darstellung dieser Art von Prothese ist übrigens im Film „Der Name der Rose“zu sehen, denn der schlaue Franziskanermönch William von Baskerville verblüfft damit seinen Schüler Adson von Melk, der solcherlei noch nie gesehen hatte. „Originale von Nietbrillen gibt es nur als fragmentarische Funde im Kloster Wienhausen. Sie sollen aus der Zeit um 1350 oder später sein“, erklärt Roth. Sie entsprechen Darstellungen auf Altarbildern. „Brillen werden dabei fast ausschließlich Petrus zugeordnet, dem als ältestem Apostel die Brille zum Ausgleich einer Altersweitsichtigkeit zugeordnet wird.“Petrus’ Ulmer Nasenfahrrad sei wie auf praktisch allen frühen Darstellungen zu klein. Attestieren wollte man dem Fischer Petrus mit diesem hilfreichen Accessoire aber auch Bildung und einen herausgehobenen Status: Im ausgehenden Mittelalter konnten zunehmend mehr Menschen lesen. Diese ersten Brillen aber waren für die Normalbürger des 14. und 15. Jahrhunderts unerschwinglich.
Was dem Ulmer Augenarzt bei seinen Untersuchungen auffiel: Alle weiteren Köpfe der über den Tod Marias trauernden Apostel-Versammlung auf dieser Fensterscheibe zeigen den Verdacht einer Augenkrankheit. Einer zeige Symptome eines Schlaganfalls mit Augenmuskellähmung, ein Zweiter die klassischen Zeichen des grauen Stars – er kneift die Augen zu. Ein Dritter schielt nach dem Verlust eines Auges. „Ein Vierter hat wohl Morbus Basedow.“Das ist eine Schilddrüsenkrankheit, bei der die Augäpfel auffällig hervortreten.
Die Gründe, warum Hans Acker die Apostel so dargestellt hat, sind nicht klar. Wohl aber, dass alle diese Krankheitsbilder nur im Alter vorkommen. „Das ist kein Zufall“, sagt Roth. Ob Künstler Acker selbst Augenprobleme hatte? Das wird ungeklärt bleiben. Wie man mit der abgebildeten Brille umgehen konnte, das will Roth genau wissen: Er arbeitet an einem exakten Nachbau der Brille, wie Petrus sie trägt.