THEATER
Verklemmtes und Schwitziges
Er ist längst unter uns. Der Terror. Plötzlich explodiert wieder etwas. Was eben noch Stoff für die abendlichen Schauernachrichten war – Krieg, Attentate, blutige Unruhen – findet plötzlich vor der eigenen Haustür statt. Man muss sich nur trauen, durch die halb heruntergelassen Jalousien zu linsen: Ich sehe was, was du nicht siehst, ein Regieprojekt der Otto Falckenberg Schule, erzählt von der Schockstarre und von der Unfähigkeit, mit der grausamen Wirklichkeit umzugehen. Oder hat das berühmt-berüchtigte Bauchgefühl eben doch Vorteile vor der knallhart zynischen Ratio-Analyse? (Volkstheater, 2.6. bis 4.6.)
Tatsächlich werden unsere Newsfeeds überschwemmt mit Nachrichten von alles entscheidenden, zuletzt ab und an sogar in letzter Minute doch noch gut ausgegangenen Wahlen, von weltweiter Unruhe, Umbrüchen und der tickenden Zeitbombe, die vermeintlich abgehängte Mehrheiten in Gang gesetzt haben. Wer ernsthaft meint, früher wäre alles besser, weil ruhiger und überschaubarer gewesen, der darf sich von der Volumnia-Inszenierung, ebenfalls von und mit der Otto Falckenberg Schule, verwirren lassen. Jeweils nur ein Zuschauer wird eingelassen, wenn dort der Zeitstrahl zurück auf Corialanus, den eitlen, adeligen Kriegsherren, der das Volk verachtet und trotzdem Konsul werden möchte, gelenkt wird. Ausgerechnet seine Mutter Volumnia will im Vier-Augen-Gespräch ihren Sohn näher vorstellen. Und davor warnen, alles leichtfertig zu glauben, was im Internet steht. (Akademietheater, 26./27.5.)
Wie „Volumnia“legt auch The Volunteer den Finger in die Zeitgeist-Wunde – ebenfalls bei noch laufenden jungen, in der Regel ziemlich atemberaubenden „Uwe – der Festival“. Im Zentrum des Stücks aus Schweden steht der Schauspieler und Aktivist Lukas Orwin, der von einer eigenen realen Reise durch ein aufgebrachtes Europa erzählt. Er möchte eine syrische Mutter und ihre vier Kinder zu deren Vater eskortieren, der in Malmö auf seine Familie wartet. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. (Akademietheater, 27.5.)
Noch einmal zurück in die Antike geht es mit Die Unerhörte, die den Kassandra-Mythos in die Moderne zu übersetzen versucht. Die Seherin leidet, weil sie mehr sieht – und weil sie den Mut hat, die Gegenwart zu deuten. Deshalb wird sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Wer hört ihr überhaupt zu? (Akademietheater, 27.5.)
Ebenfalls eine „Uwe“-Produktion, die tiefer ritzt, ist die Performance Schlachtspiele, die sich mit dem modernen Kulturbetrieb beschäftigt: Dort wo früher Schweine ausbluteten, in den ehemaligen Schlachthöfen, schwitzen jetzt immer öfter Performer. Das brutale Handwerk des Tötens wurde aus unseren In-
nenstädten vertrieben. Doch wo findet es dann statt? (Akademietheater, 27.5.)
Es sind die unerfüllten Sehnsüchte, die offenbar immer gleich bleiben – etwa nach Gerechtigkeit, einer fairen Gesellschaft, aber auch nach Glück und Erfolg. Joel Pommerat arbeitet das sehr eindringlich in seinem Kreise/Visionen-Reigen heraus, der dafür einen zeitlichen Bogen über mehr als 700 Jahre schlägt. Immer wieder ist es der Wahnsinn, der die Aufbruchsfreudigen stoppt. Und die Unfähigkeit vieler Mitmenschen, Konflikte friedlich zu lösen. So lernt man einen Ritter kennen, der im Jahr 1370 mit dem Verlust seines Glaubens hadert. Er fühlt sich ebenso verlassen wie die Aristokratin, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Dienerschaft aus der erweiterten Großfamilie entlässt. Dann wieder scheitert ein Manager am anarchischen Verhandlungspoker von Obdachlosen, denen er ein Organ für sein krankes Kind abkaufen möchte. Schlimme Geschichte, durchgespielt in 20 Wendungen mit über 50 lose verbundenen Figuren. (Marstall, ab 1.6.)
Dass nichts wirklich besser wird: Braucht es noch Beweise? Zumindest vom historischen Kolorit her äußerst spannend dürfte die Indika-Uraufführung sein, mit der Regisseur Sankar Venkateswaran sehr weit in die indische Frühgeschichte zurückblendet. Erzählt wird vom Begründer eines Großreiches, das sich 320 vor Christus auf dem Subkontinent rasant ausbreitete. Plötzlich wandelt sich aber noch viel mehr: Aus einem ehemaligen Naturzustand der Gesellschaft schält sich ein politisch organisierter, zentralistischer Staat heraus – mit entmenschlichenden Konsequenzen für die Untertanen und zerstörerischen Folgen für die Natur. (Volkstheater, ab 26.5.)
Kein Rückkehr in den Naturzustand, was auch immer das die Bürger heißen sollte, war im Algerien der spätkolonialen Kriege möglich. Hier siedelte Bernard-Marie Koltès sein Stück Rückkehr in die Wüste an, das von finsteren Familienintrigen und Racheplänen erzählt. Plötzlich explodiert in einem arabischen Café eine Bombe. Und die einmarschierende Armee sorgt mit brutaler Entschlossenheit für Friedhofsruhe. (Residenztheater, ab 27.5.)
„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, hungrig hysterisch nackt“: So kraftvoll-verzweifelt beginnt Allen Ginsbergs Aufschrei Howl, der von lamentierenden Loops, Klagegesängen, tief traurigen Gospel-Stücken und vom jüdischen Kaddish getrieben ist. Ein Drogenrausch, eine Jazz-Kakophonie, ein fiebriger amerikanischer Albtraum, dem die herausragende Bibliana Beglau ein Gesicht und Flo Kreier den Soundtrack gibt. (Marstall, 8./11.6.)
Eine Stimmung kurz vor dem Explodieren herrscht auch im New Yorker Knast, in der Männer ohne Zukunft ihre Zeit totschlagen. Sie schwingen Reden, kämpfen, singen, reiben sich aneinander und masturbieren. Schwarze, Puerto-Ricaner, wenige Weiße. Was ihnen blieb, ist allein ihre Herkunft, ihre Männlichkeit und ihr ein Rest von Stolz. Umso brenzliger wird es, als mit Clark Davis ein angeblicher Kinderschänder –in der Insassen-Sprache: Short Eyes –hereinschneit. Ein tödliches Tabu für alle Gefangen und auch für die Wärter. Wer wird zum Richter über Leben und Tod? (HochX, 26. bis 29.5.)
Ähnlich ungemütlich geht es schließlich zu, wenn vor der Höllentür das Schild mit der Aufschrift Geschlossene Gesellschaft hängt. Zwei Frauen, ein Mann, ein Kampf um Liebe – in einer Endlosschleife ohne Erlösung. Jean-Paul Satre wusste einfach, wie man schön sadistisch Akteuren und Publikum die letzte Hoffnung raubt. (Teamtheater Tankstelle, 26.5. bis 3.6.)
Natürlich muss es bei so viel Überdruck auch noch Entspannendes geben. Da wäre zum einen die Münchner Version des Operetten-Klassikers My Fair Lady, bei dem ein Blumenmädchen, das ziemlich derb Mundart spricht, zum akzeptierten Mitglied der feineren Gesellschaft erzogen werden soll. Der Weg dahin gestaltet sich bekanntlich humorbeschwingt. (CarlOrff-Saal, 26./27.5.)
Zum anderen darf man sich auf die erlesen feinen „Pfingstfestspielchen“im Theater von Christiane Brammer („Hier ist alles möglich, hier darf alles sein“) freuen. Wieder einmal hat Dominik Wilgenbus die Musikgeschichte durchpflügt und mit Die beiden Blinden – nach Jacques Offenbach – ein besonders mundgerechtes Schmankerl angerichtet. Zwei Bettler, zwei Cellisten, liefern sich auf einer Brücke ein Duell, das zunächst wie ein Duett klingt. Dann aber verwandelt sich der Wohlklang in Waffengewalt. (Hofspielhaus, 3.6.)