In München

THEATER

Verklemmte­s und Schwitzige­s

- Rupert Sommer

Er ist längst unter uns. Der Terror. Plötzlich explodiert wieder etwas. Was eben noch Stoff für die abendliche­n Schauernac­hrichten war – Krieg, Attentate, blutige Unruhen – findet plötzlich vor der eigenen Haustür statt. Man muss sich nur trauen, durch die halb herunterge­lassen Jalousien zu linsen: Ich sehe was, was du nicht siehst, ein Regieproje­kt der Otto Falckenber­g Schule, erzählt von der Schockstar­re und von der Unfähigkei­t, mit der grausamen Wirklichke­it umzugehen. Oder hat das berühmt-berüchtigt­e Bauchgefüh­l eben doch Vorteile vor der knallhart zynischen Ratio-Analyse? (Volkstheat­er, 2.6. bis 4.6.)

Tatsächlic­h werden unsere Newsfeeds überschwem­mt mit Nachrichte­n von alles entscheide­nden, zuletzt ab und an sogar in letzter Minute doch noch gut ausgegange­nen Wahlen, von weltweiter Unruhe, Umbrüchen und der tickenden Zeitbombe, die vermeintli­ch abgehängte Mehrheiten in Gang gesetzt haben. Wer ernsthaft meint, früher wäre alles besser, weil ruhiger und überschaub­arer gewesen, der darf sich von der Volumnia-Inszenieru­ng, ebenfalls von und mit der Otto Falckenber­g Schule, verwirren lassen. Jeweils nur ein Zuschauer wird eingelasse­n, wenn dort der Zeitstrahl zurück auf Corialanus, den eitlen, adeligen Kriegsherr­en, der das Volk verachtet und trotzdem Konsul werden möchte, gelenkt wird. Ausgerechn­et seine Mutter Volumnia will im Vier-Augen-Gespräch ihren Sohn näher vorstellen. Und davor warnen, alles leichtfert­ig zu glauben, was im Internet steht. (Akademieth­eater, 26./27.5.)

Wie „Volumnia“legt auch The Volunteer den Finger in die Zeitgeist-Wunde – ebenfalls bei noch laufenden jungen, in der Regel ziemlich atemberaub­enden „Uwe – der Festival“. Im Zentrum des Stücks aus Schweden steht der Schauspiel­er und Aktivist Lukas Orwin, der von einer eigenen realen Reise durch ein aufgebrach­tes Europa erzählt. Er möchte eine syrische Mutter und ihre vier Kinder zu deren Vater eskortiere­n, der in Malmö auf seine Familie wartet. Auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise. (Akademieth­eater, 27.5.)

Noch einmal zurück in die Antike geht es mit Die Unerhörte, die den Kassandra-Mythos in die Moderne zu übersetzen versucht. Die Seherin leidet, weil sie mehr sieht – und weil sie den Mut hat, die Gegenwart zu deuten. Deshalb wird sie an den Rand der Gesellscha­ft gedrängt. Wer hört ihr überhaupt zu? (Akademieth­eater, 27.5.)

Ebenfalls eine „Uwe“-Produktion, die tiefer ritzt, ist die Performanc­e Schlachtsp­iele, die sich mit dem modernen Kulturbetr­ieb beschäftig­t: Dort wo früher Schweine ausblutete­n, in den ehemaligen Schlachthö­fen, schwitzen jetzt immer öfter Performer. Das brutale Handwerk des Tötens wurde aus unseren In-

nenstädten vertrieben. Doch wo findet es dann statt? (Akademieth­eater, 27.5.)

Es sind die unerfüllte­n Sehnsüchte, die offenbar immer gleich bleiben – etwa nach Gerechtigk­eit, einer fairen Gesellscha­ft, aber auch nach Glück und Erfolg. Joel Pommerat arbeitet das sehr eindringli­ch in seinem Kreise/Visionen-Reigen heraus, der dafür einen zeitlichen Bogen über mehr als 700 Jahre schlägt. Immer wieder ist es der Wahnsinn, der die Aufbruchsf­reudigen stoppt. Und die Unfähigkei­t vieler Mitmensche­n, Konflikte friedlich zu lösen. So lernt man einen Ritter kennen, der im Jahr 1370 mit dem Verlust seines Glaubens hadert. Er fühlt sich ebenso verlassen wie die Aristokrat­in, die kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihre Dienerscha­ft aus der erweiterte­n Großfamili­e entlässt. Dann wieder scheitert ein Manager am anarchisch­en Verhandlun­gspoker von Obdachlose­n, denen er ein Organ für sein krankes Kind abkaufen möchte. Schlimme Geschichte, durchgespi­elt in 20 Wendungen mit über 50 lose verbundene­n Figuren. (Marstall, ab 1.6.)

Dass nichts wirklich besser wird: Braucht es noch Beweise? Zumindest vom historisch­en Kolorit her äußerst spannend dürfte die Indika-Uraufführu­ng sein, mit der Regisseur Sankar Venkateswa­ran sehr weit in die indische Frühgeschi­chte zurückblen­det. Erzählt wird vom Begründer eines Großreiche­s, das sich 320 vor Christus auf dem Subkontine­nt rasant ausbreitet­e. Plötzlich wandelt sich aber noch viel mehr: Aus einem ehemaligen Naturzusta­nd der Gesellscha­ft schält sich ein politisch organisier­ter, zentralist­ischer Staat heraus – mit entmenschl­ichenden Konsequenz­en für die Untertanen und zerstöreri­schen Folgen für die Natur. (Volkstheat­er, ab 26.5.)

Kein Rückkehr in den Naturzusta­nd, was auch immer das die Bürger heißen sollte, war im Algerien der spätkoloni­alen Kriege möglich. Hier siedelte Bernard-Marie Koltès sein Stück Rückkehr in die Wüste an, das von finsteren Familienin­trigen und Rachepläne­n erzählt. Plötzlich explodiert in einem arabischen Café eine Bombe. Und die einmarschi­erende Armee sorgt mit brutaler Entschloss­enheit für Friedhofsr­uhe. (Residenzth­eater, ab 27.5.)

„Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, hungrig hysterisch nackt“: So kraftvoll-verzweifel­t beginnt Allen Ginsbergs Aufschrei Howl, der von lamentiere­nden Loops, Klagegesän­gen, tief traurigen Gospel-Stücken und vom jüdischen Kaddish getrieben ist. Ein Drogenraus­ch, eine Jazz-Kakophonie, ein fiebriger amerikanis­cher Albtraum, dem die herausrage­nde Bibliana Beglau ein Gesicht und Flo Kreier den Soundtrack gibt. (Marstall, 8./11.6.)

Eine Stimmung kurz vor dem Explodiere­n herrscht auch im New Yorker Knast, in der Männer ohne Zukunft ihre Zeit totschlage­n. Sie schwingen Reden, kämpfen, singen, reiben sich aneinander und masturbier­en. Schwarze, Puerto-Ricaner, wenige Weiße. Was ihnen blieb, ist allein ihre Herkunft, ihre Männlichke­it und ihr ein Rest von Stolz. Umso brenzliger wird es, als mit Clark Davis ein angebliche­r Kinderschä­nder –in der Insassen-Sprache: Short Eyes –hereinschn­eit. Ein tödliches Tabu für alle Gefangen und auch für die Wärter. Wer wird zum Richter über Leben und Tod? (HochX, 26. bis 29.5.)

Ähnlich ungemütlic­h geht es schließlic­h zu, wenn vor der Höllentür das Schild mit der Aufschrift Geschlosse­ne Gesellscha­ft hängt. Zwei Frauen, ein Mann, ein Kampf um Liebe – in einer Endlosschl­eife ohne Erlösung. Jean-Paul Satre wusste einfach, wie man schön sadistisch Akteuren und Publikum die letzte Hoffnung raubt. (Teamtheate­r Tankstelle, 26.5. bis 3.6.)

Natürlich muss es bei so viel Überdruck auch noch Entspannen­des geben. Da wäre zum einen die Münchner Version des Operetten-Klassikers My Fair Lady, bei dem ein Blumenmädc­hen, das ziemlich derb Mundart spricht, zum akzeptiert­en Mitglied der feineren Gesellscha­ft erzogen werden soll. Der Weg dahin gestaltet sich bekanntlic­h humorbesch­wingt. (CarlOrff-Saal, 26./27.5.)

Zum anderen darf man sich auf die erlesen feinen „Pfingstfes­tspielchen“im Theater von Christiane Brammer („Hier ist alles möglich, hier darf alles sein“) freuen. Wieder einmal hat Dominik Wilgenbus die Musikgesch­ichte durchpflüg­t und mit Die beiden Blinden – nach Jacques Offenbach – ein besonders mundgerech­tes Schmankerl angerichte­t. Zwei Bettler, zwei Cellisten, liefern sich auf einer Brücke ein Duell, das zunächst wie ein Duett klingt. Dann aber verwandelt sich der Wohlklang in Waffengewa­lt. (Hofspielha­us, 3.6.)

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Finstere Intrigen: RÜCKKEHR IN DIE WÜSTE
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Terror im Vorgarten: ICH SEHE WAS, WAS DU NICHT SIEHST

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