ZEHN JAHRE NACH DER LEHMAN-PLEITE
Banker erinnern sich an den Ausbruch der Finanzkrise
Die Hiobsbotschaft hat Peter Schneider im Festzelt erreicht. An diesem Montag im September des Jahres 2008 war der gebürtige Riedlinger in Bad Schussenried, zum Höhepunkt des Magnusfests. Am Vormittag waren Reiter mit Fahnen und Fanfaren, fantasievoll verkleidete Kinder und mittelalterliche Kutschen beim traditionellen Festumzug durch die Straßen gezogen. Ein Umzug, wie er typisch ist für viele Städte und Gemeinden in Oberschwaben – genauso typisch wie die anschließende Stärkung mit Musik, Bier und Bratwurst im Festzelt.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Nicht für Peter Schneider, den Sparkassenpräsidenten des Landes Baden-Württemberg. Der Grund für Schneiders überhasteten Aufbruch lag gut 6000 Kilometer westlich von Bad Schussenried, in New York. In der Millionenmetropole an der Ostküste der Vereinigten Staaten, dem Gravitationszentrum der globalen Finanzwelt, hatte soeben die viertgrößte US-Investmentbank Lehman Brothers ihren Überlebenskampf verloren, hatte Insolvenz angemeldet. Und Schneider eilte Hals über Kopf zurück nach Stuttgart.
„Historische Zäsur“
„Mir war sofort klar: Das ist eine neue Dimension, das wird eine ganz schwere Erschütterung des Finanzsystems auslösen“, erinnert sich Schneider zehn Jahre später. Schon in den Monaten zuvor waren reihenweise Finanzinstitute umgekippt und wurden in teils dramatischen Rettungsaktionen aufgefangen, verstaatlicht oder zwangsverkauft, nachdem auf dem US-amerikanischen Immobilienmarkt eine gigantische Preisblase geplatzt war. „Doch das eine Bank einfach so in einem Erdloch verschwindet, das gab es vorher nicht. Das war eine historische Zäsur“, sagt Franz Schmid, Chef der Volksbank Altshausen.
Auch Schmid erinnert sich an diesen 15. September 2008 noch genau. Es war der Tag der Generalversammlung der Volksbank Altshausen, der Tag, an dem der Bankvorstand den damals rund 7000 Eigentümern eigentlich über eine „dynamische Entwicklung bei Krediten und Einlagen“, über „eine Dividendengutschrift von 4,35 Prozent“berichten wollte. Doch im vollbesetzten Postsaal von Altshausen (Landkreis Ravensburg) waren das nur Randnotizen. Im Zentrum standen die ungeheuerlichen Vorgänge in der internationalen Hochfinanz und was das alles für Deutschland, für Oberschwaben, für den Einzelnen bedeuten könnte. „Das hat die Leute bewegt. Wir haben uns dann kurzerhand zu einem Vortrag entschlossen, wie die Finanzmärkte aus der Krise hinausmanövriert werden könnten“, erzählt Schmid.
Der Befund der Volksbanker von damals: Eine Rückkehr zur Normalität könne nur durch Geldentwertung gelingen, indem die angehäuften Schuldenberge im Finanzsektor, die Wurzel allen Übels, durch höhere Inflationsraten entwertet werden. Eine Theorie, die damals viele Anhänger hatte. Die Versicherung Schmids, bei Lehman Brothers kein Geld im Feuer zu haben, beruhigte die Anwesenden. „Ich hatte den Eindruck, dass die Leute ganz froh waren, Kunde bei einer regionalen Bank mit einem soliden und verständlichen Geschäftsmodell zu sein“, blickt Schmid zurück.
100 Milliarden im Zuleitungsrohr
Die Annahme, Repräsentant von Finanzinstituten mit soliden und verständlichen Geschäftsmodellen zu sein, hatte auch Schneider. Bis er durch die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) eines Besseren belehrt wurde. Das Spitzeninstitut der Sparkassen im Südwesten hatte über hochkomplexe, außerbilanzielle Zweckgesellschaften, sogenannte Conduits, am US-amerikanischen Häusermarkt mitspekuliert – und Schiffbruch erlitten. Mit dem Kollaps von Lehman Brothers versiegten nicht nur die für diese Geschäfte lebensnotwendigen Finanzierungsquellen, viele der Anlagen wurden quasi über Nacht von den Ratingagenturen stark herabgestuft und waren plötzlich viel weniger wert. „In der Folge hatten wir mit der LBBW ein Problem: Die Bank brauchte plötzlich deutlich mehr Eigenkapital“, erzählt Schneider.
Von der Existenz solcher Zweckgesellschaften bei deutschen Banken hatte der Sparkassenpräsident nach eigener Aussage erst rund ein Jahr vorher auf einem Krisentreffen zur Rettung der Düsseldorfer Bank IKB erfahren. „Da fiel erstmals das Wort Conduits. Ich hab das erst gar nicht verstanden. Was ist denn das? Was reden die denn da?“, erinnert sich Schneider, der, zurück in Stuttgart, seine Mannschaft auf die ominösen Konstrukte ansprach und auch nur Schulterzucken erntete. „Ich habe dann im Englisch-Wörterbuch nachgeschlagen und als Übersetzung das Wort Zuleitungsrohr gefunden“, erzählt Schneider, und illustriert seine Gedankengänge von damals: Da wurde aus regulatorischen und steuerlichen Gründen etwas organisiert, was nicht in der Bilanz auftauchen durfte, dessen Erträge dann aber wieder in die Bilanz einfließen sollten. „Dann ist mir das klargeworden. Wir mussten uns das Stück für Stück erschließen.“ Wertpapiere im Volumen von 100 Milliarden Euro hatte die LBBW in diesen „Zuleitungsrohren“angehäuft. Im Herbst 2008 flog der Bank das alles um die Ohren. „Im November hieß es dann vom Vorstandschef, das Kapital der Bank reicht nicht“, blickt Schneider zurück. Was folgte waren Monate, „in denen alles gewackelt hat“, Monate, in denen die Rettung der Bank kontrovers diskutiert und am Ende entschieden wurde. Eine Kapitalspritze von fünf Milliarden Euro und Garantien in Höhe von 13 Milliarden Euro, getragen von den Sparkassen im Südwesten, dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Suttgart, sicherten der LBBW das Überleben – „eine Entscheidung von einer solch enormen Tragweite muss ich hoffentlich in meinem Leben nicht noch einmal treffen“, sagt Schneider.
Schock am Frühstückstisch
Mit im Boot bei der Rettung der LBBW saß auch Heinz Pumpmeier, Chef der Kreissparkasse Ravensburg. „Als Träger der LBBW haben wir verhindert, dass der Steuerzahler weitere Lasten hätte übernehmen müssen“, erinnert sich der Banker, der die Pleite von Lehman Brothers am 15. September 2008 erst einmal als „nicht bedrohlich“eingeordnet hatte. In den Tagen danach revidierte er diese Einschätzung. „Spätestens beim Frühstück am 26. September war mir klar, dass die Krise auch hier angekommen ist“, so Pumpmeier.
Was war geschehen? In den Wirtschaftsnachrichten des SWR lief an diesem Morgen die Meldung, dass in den Vereinigten Staaten die Washington Mutual Bank Pleite ist, dem Sender zufolge die größte Sparkasse der USA. Die Sparkassen hierzulande waren bislang von der Krise verschont geblieben. Und nun das. „Ich dachte, das darf ja wohl nicht wahr sein. Sparkassen, die öffentlichrechtlich getragen werden, gibt es in Amerika gar nicht. Mit solchen Meldungen, so meine Befürchtung, wird die Krise in den bislang solide dastehenden Sparkassensektor getragen“, erzählt Pumpmeier, der daraufhin umgehend eine E-Mail an den SWRChef absetzte, weil er das „unverantwortlich fand“. Eine daraufhin angesetzte Mitarbeiterversammlung der Kreissparkasse lockte nur 100 der damals rund 850 Angestellten in den Backsteinbau nach Ravensburg – für Pumpmeier auch heute noch Beweis für das „unendliche Vertrauen der Mitarbeiter in unsere Sparkasse“.
Das Vertrauen der Kunden wurde nur wenige Tage später auf die Probe gestellt – nachdem die Münchener Immobilienbank Hypo Real Estate mit Milliardenbürgschaften gerettet werden musste, und Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem damaligen Finanzminister Peer Steinbrück am Abend des 5. Oktober vor die Kameras trat und den deutschen Sparern ihre Einlagen garantierte. „Das hat mich damals sehr überrascht. Ich ging davon aus, dass diese Erklärung die Leute noch mehr verunsichert“, gibt Pumpmeier heute zu. Und so trafen er und seine Vorstandskollegen damals die Entscheidung, die Bargeldvorräte der Kreissparkasse massiv zu erhöhen, um bei einem möglichen Bank-Run – einem ungeordneten und massenhaften Ansturm der Kunden auf die Bargeldvorräte – gewappnet zu sein. „Wir fragten umgehend bei der Bundesbank nach, ob kurzfristig Bargeld zu bekommen sei“, erinnert sich Pumpmeier. Dort bejahte man das: Kein Problem hieß es aus Frankfurt. „Und wie sieht es aus, wenn das alle Banken und Sparkassen wollen?“, fuhr Pumpmeier fort. Dann werde man die Anfragen in alphabetischer Reihenfolge abarbeiten. „In dem Moment wünschte ich mich auf den Chefposten der Kreissparkasse Aalen“, erzählt Pumpmeier.
Fünf Millionen Euro weg
Am Ende war die Sorge unbegründet, kaum jemand hob größere Summen Bargeld ab. Der Auftritt von Merkel und Steinbrück und der aufgespannte Rettungsschirm für strauchelnde Banken hatte die Deutschen beruhigt. „Das war damals zentral wichtig und goldrichtig, denn die Herde war kurz davor durchzugehen“, glaubt Sparkassenpräsident Schneider. Volksbanker Schmid pflichtet ihm bei: „Es war gut, dass die beiden vor die Kameras getreten sind. Denn ob es zu einem Bank-Run kommt oder nicht hängt vom Vertrauen und der Psyche der Leute ab – und das kann man nicht kalkulieren.“Auch Pumpmeier sieht das heute so. „Mit dem Wissen von heute kann man sagen, dass die Erklärung die Leute beruhigt hat.“
Der besonnen wirkende Banker hatte in den Wochen danach allerdings noch den ein oder anderen unruhigen Tag. Zum Jahreswechsel 2008/09 etwa, als sich der ganz große Sturm inzwischen gelegt hatte, und die Kreissparkasse ihre zuvor bei der Bundesbank geholten Euro-Millionen wieder zurückführen wollte. Der Sondergeldtransport verließ Ravensburg planmäßig. Im Tresor der Bundesbank in Frankfurt aber fehlte urplötzlich eine Geldkassette mit fünf Millionen Euro. Die tauchte wenig später – zusammen mit einem der Fahrer des Geldtransportes – in Brasilien wieder auf. Dem Ganoven und einem Großteil des Geldes wurden Ermittler wenige Wochen später zwar habhaft, doch 250 000 Euro hatte der Räuber zwischenzeitlich durchgebracht. Peanuts möchte man sagen, angesichts der Abermilliarden an Verlusten, die im Zuge der Finanzkrise angehäuft wurden.
Eines will Pumpmeier aber noch loswerden: Er sei in den turbulenten Monaten nie massiv beunruhigt gewesen. „Diese Sparkasse, die in vier Jahren ihr zweihundertjähriges Bestehen feiert, hat schon viel schlimmere Zeiten überstanden. Auch wenn sich die Lage damals verschlechtert hätte, wir wären durchgekommen.“