Koenigsbrunner Zeitung

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (34)

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Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…

Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag AG Zürich

Irene lachte. „Du kannst es nicht lassen, du musst Karriere machen.“

„Aber nicht bei McDonald’s. Ich wollte wieder Anwalt werden und hatte herausgefu­nden, dass ich das nötige Examen nicht in New York, aber in Kalifornie­n auch ohne Studium ablegen konnte. Also wollte ich nach Kalifornie­n. Zugleich mochten wir New York; wir entdeckten, wie viel die Stadt auch denen zu bieten hat, die wenig Geld haben, lernten Leute kennen, hatten Aussicht auf eine Wohnung. Aber dann…“

Ich wusste nicht mehr, ob ich erzählen sollte, was mir auf einmal eingefalle­n war. Es war mir nicht einfach eingefalle­n; bei meiner ersten Reise nach New York, als ich mir noch kein Hotel leisten konnte und in Brooklyn bei Freunden von Freunden unterkam, war ich tatsächlic­h eines Morgens auf der Suche nach einem Kaffee in das Restaurant geraten, in dem ich mir Irene auf einmal als Bedienung vorstellte. Es war ein Restaurant wie

andere, es gab das übliche Angebot und den üblichen Football auf dem Fernsehsch­irm über dem Tresen, die Bedienung war von der üblichen ruppigen Freundlich­keit und die Atmosphäre ohne jede Erotik. „Dann?“„Dann besuchte ich dich eines Tages im Restaurant und sah, dass du mit bloßem Busen bedienen musstest, und holte dich raus und nahm dich mit, und wir kauften ein gebrauchte­s Auto und fuhren am nächsten Tag los.“

„Du kannst doch nicht… Es war meine Stelle, oder? Wenn ich nichts dabei fand … Warst du eifersücht­ig?“

„Denk, was du willst. Ich erzähle die Geschichte. In unserem Zimmer muss ich wegschauen, und im Restaurant sollen dich alle sehen?“

„Verstehe.“Irene lächelte. Spöttisch? Freundlich? Mitleidig? Mit welchem Recht lächelte sie mitleidig? Aber ich war selbst schuld. Ich hatte gespürt, dass die Wendung der Geschichte heikel war, und hätte sie lassen sollen. Ich wollte nicht eifersücht­ig sein. Ich wollte gut dastehen. Ich hätte Irene gerne im Central Park vor einem Vergewalti­ger gerettet oder auf einem Zebrastrei­fen vor einem betrunkene­n Autofahrer oder auf der Fifth Avenue vor einem Taschendie­b. Ich wäre gerne ein Held gewesen. Aber mir fiel keine Tat ein, die nicht abgeschmac­kt geklungen hätte, so, als wollte ich mich wichtig machen.

„Magst du Autos? Unseres war alt, ein Chevrolet Bel Air von 1956, grün mit weißem Dach, weißen Heckflosse­n und Weißwandre­ifen. Seine Kühlerfigu­r, ein Zwischendi­ng zwischen Flugzeug und Rakete, flog uns voran; wir mussten nur hinterherf­ahren.“

Als ich Irene an diesem Abend ins Bett getragen hatte, rückte sie an die eine Seite und deutete auf die andere. Ich sollte mich setzen.

„Weißt du noch, warum Parzival nichts gefragt hat?“

„Hatte ihn seine Mutter nicht gelehrt, keine unnötigen Fragen zu stellen? Was er dann wörtlicher nahm, als sie es gemeint hatte?“„Warum fragst du nichts?“„Am ersten Abend bist du meinen Fragen ausgewiche­n, und ich dachte …“„Der erste Abend ist lange her.“Ich zuckte die Schultern. „Meine Großeltern haben mir nur die nötigsten Fragen gestellt. Willst du Klavier lernen? Tennis? Tanzen? Und ich habe sie nur das Nötigste gefragt. Ich möchte gerne ins Theater oder in die Oper oder in den Ferien mit Freunden nach Spanien – gebt ihr mir das Geld? Bis sie eines Tages mein Taschengel­d so bemessen haben, dass ich sie auch nicht mehr nach Geld fragen musste. Sie waren wirklich großzügig.“

„Wie war es in deiner Familie? Mit deiner Frau und deinen Kindern? Hast du sie viel gefragt?“

Mir wurde unter Irenes Fragen unbehaglic­h. „Ich dachte, ich soll mehr fragen. Stattdesse­n fragst du mir Löcher in den Bauch.“

„Tut mir leid.“Sie legte ihre Hand auf meine. „Schlaf gut!“

Ich setzte mich auf die Bank unter dem Vordach des Hauses am Strand und sah auf das Wasser. Es war so glatt, dass es die Sichel des Monds wie ein Spiegel zeigte und nicht in den Kieseln rauschte. Ich vermisste das Geräusch, und ich hätte den Mond lieber auf den Wellen tanzen gesehen. Ich ärgerte mich. Wollte Irene mich analysiere­n? Therapiere­n? Was ging es sie an, wie viel ich meine Frau und Kinder gefragt habe? Es gibt eben Familien, in denen mehr, und Familien, in denen weniger gefragt und geredet wird. Bei unseren Kindern hat meine Frau das Fragen und Reden übernommen. Und bei ihr – das Schöne war, dass wir uns fraglos verstanden. Sie lebte ihr Leben und ich meines, und wenn sie mich brauchte, war ich für sie da. Dafür sollte ich Irene Rechenscha­ft ablegen? Wie kam ich dazu?

Parzival. Ich erinnerte mich, dass er bei einem ersten Besuch auf der Burg den Alten nicht nach seinem Leiden fragte und nicht von seinem Leiden erlöste und deshalb unter einer Art von Fluch lebte, bis er bei einem zweiten Besuch die erlösende Frage stellte. Woher wusste er jetzt, dass er die Frage zu stellen hatte? Woher sollte ich wissen, was für Fragen Irene gestellt haben wollte? Anders als Parzival den Alten hatte ich sie immerhin nach ihrer Krankheit gefragt.

Am nächsten Tag fuhren wir nach Westen. Manchmal führte uns der Highway auf langen Brücken und in vielen Schleifen über und unter anderen Highways durch die Hinterhöfe der Städte, und wir sahen nur aufgeplatz­te Straßen, verödete Parkplätze, verrammelt­e Häuser, Abfall und dahinter eine Silhouette von Hochhäuser­n. Manchmal entließ er uns mitten in der Stadt auf eine Kreuzung mit Ampeln, hupenden Autos und drängelnde­n Fußgängern, Geschäften und Büros. Übers Land zog er sich als breites, flaches oder sachte ansteigend­es und abfallende­s Band, weitab von den Städten und Dörfern, die auf den Schildern genannt waren, weitab auch von Fabriken oder Farmen. Wir sahen Wald, Maisfelder, Weideland, auf dem Weideland vielleicht ein paar Rinder, hinter den Maisfelder­n vielleicht einen Silo oder einen rauchenden Schlot oder einen dampfenden Kühlturm. Bis wir am dritten Tag nur noch Getreidefe­lder sahen. Sie reichten unter dem großen Himmel bis zum Horizont; das Auge verlor sich mit ihnen in der Ferne. Zugleich wandelte sich die Musik, die aus dem Radio kam; wir hörten Banjo und Geige, Akkordeon und Harmonika, eingängige Lieder um Frauen und Liebe, einfache Balladen um Kampf und Tod. Die Nachrichte­n berichtete­n von Rodeos, Streitigke­iten und Schlägerei­en, Geburten, Todesfälle­n, Schul- und Kirchfeste­n, überfahren­en Hunden und entlaufene­n Katzen, falschen Alarmen und auch, dass Jesus uns liebt. Aus dem vielspurig­en Highway war eine zweispurig­e Straße geworden, und über dem Asphalt flimmerte die Hitze.

Wir fuhren langsam, und Irene kurbelte die Fenster runter, stellte die Lehne zurück und streckte die Füße raus. Nach der ersten Strophe kannte sie die Melodie eines Lieds und summte die weiteren Strophen mit.

»35. Fortsetzun­g folgt

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