Koenigsbrunner Zeitung

Gedenken ohne Augenzeuge­n

Die Erinnerung an die 600 während des Nationalso­zialismus ermordeten und etwa 560 vertrieben­en Augsburger Juden steht vor neuen Herausford­erungen

- VON STEFANIE SCHOENE

Nach 15 Jahren erstmals ohne Zeitzeugen: Bei der diesjährig­en Matinee zu den „Lebenslini­en“stand die Neuorienti­erung in der Erinnerung­sarbeit im Mittelpunk­t. Etwa 70 Gäste folgten der Einladung des Jüdischen Kulturmuse­ums und des Sensemble Theaters. Zwar gebe es noch Juden, die aus eigenem Erleben über die Reichspogr­omnacht 1938, über die Ausgrenzun­g, Enteignung und Deportatio­nen in Augsburg berichten könnten, erklärt Benigna Schönhagen vom Jüdischen Museum. Allerdings sei die Anreise aus dem Ausland für die Hochbetagt­en inzwischen zu beschwerli­ch.

Die wissenscha­ftliche Forschung sehe drei Phasen der Erinnerung­skultur: Während die erste Generation noch den Schmerz abkoppelte, stellte die zweite Generation Fragen. Sie rekonstrui­erte das Geschehen, rührte jedoch nicht an den Gefühlen der Eltern. Erst die Enkel fragen nach der persönlich­en Bedeutung des Erlebten, nach den Auswirkung­en des Holocaust auf die heutige, eigene Identität.

Und so wendet sich das Museum seit diesem Jahr den Nachfahren der Augsburger Familien zu, die das Team im Verlauf der letzten 15 Jahre im Rahmen der „Lebenslini­en“und anderer Projekte recherchie­rt und erforscht hat. Aus diesem weltumspan­nenden Netzwerk organisier­te das Museum in diesem Sommer ein „Reunion“-Treffen, zu dem im Juni 99 Kinder, Enkel und Urenkel ermordeter, verscholle­ner oder überlebend­er jüdischer Augsburger aus allen Teilen der Welt anreisten. Höhepunkt des Treffens war der Festakt zum 100-jährigen Geburtstag der Synagoge, an dem auch Bundespräs­ident Walter Steinmeier teilnahm.

Während des sechstägig­en Aufenthalt­s der Familien entstand ein Dokumentar­film, dessen Uraufführu­ng im Mittelpunk­t der Matinee am Sonntag stand. „Finding Memories“von Pola Sell ist eine 30-minütige, intime und anrührende Dokumentat­ion dieses bundesweit einmaligen Treffens. Da ist Henry Stern, der bereits 2013 Gast der „Lebenslini­en“war. Er kehrte in diesem Jahr als einziger Zeitzeuge in die Heimat seiner Eltern zurück. In der Mozartstra­ße 7 blickt er an dem einst elterliche­n Haus hoch und erzählt. Von dem Priester, der in der unteren Wohnung lebte. „Hier“, sagt Stern, dessen Familie 1938 nach Gefängnis und Folter gerade noch die Ausreise nach England schaffte, „hier am Eingang standen mein Bruder und ich und er hat uns gesegnet. Wir waren gesegnet!“Die Erinnerung­en überwältig­en ihn, er weint. Tante, Onkel und zwei Cousinen überlebten den Holocaust nicht.

Neben einem Ur- sowie einem Ururenkel des berühmten Augsburger Synagogen-Architekte­n Fritz Landauer werden auch Howard und Steven, Söhne aus der Familie der sieben Einstein-Brüder, die im Vieh- und Schlachtha­ndel Kriegshabe­rs bekannt waren, gezeigt. Die dritte Einstein-Generation ist mit den Enkelinnen Talia und Loren vertreten. Die Kamera begleitet sie zur Installati­on eines Erinnerung­sbandes für Max, Johanna, Heinrich, Isaak, Ida, Moritz und Lydia Einstein in der Ulmer Straße. Die stärkste Sequenz des Films. Das Verkehrsch­aos ist alles andere als friedlich, doch die Bedeutung des Rituals ist deutlich spürbar. „Ihre Leben sind durch die Krematoriu­msschornst­eine ausgelösch­t worden, und es gab auf Erden keinen Ort, an dem ihr Name stand. Jetzt sind sie wieder zurück“, erklärt Howard.

 ?? Foto: Silvio Wyszengrad ?? Auch Zeitzeuge Henry Stern erzählt in ei nem Film von seinen Erinnerung­en.
Foto: Silvio Wyszengrad Auch Zeitzeuge Henry Stern erzählt in ei nem Film von seinen Erinnerung­en.

Newspapers in German

Newspapers from Germany