Landsberger Tagblatt

Nicht mehr so berauscht

Umfrage Warum Jugendlich­e heute weniger Alkohol trinken

- (dpa, epd, bom)

Berlin Die gute Nachricht gleich zu Beginn: Der Jugend scheint die Lust auf Bier, Wein und Schnaps weitgehend vergangen zu sein. Alkopops – im vergangene­n Jahrzehnt im Trend – sind aus der Mode gekommen. Komasaufen ist unter Jugendlich­en heute eher verpönt. Und wenn sie nach ihren Trinkgewoh­nheiten befragt werden, sagen nur noch zehn Prozent der Zwölf- bis 17-Jährigen, mindestens einmal pro Woche Alkohol zu trinken. Im Jahr 2004 waren es noch doppelt so viele. Jeder Dritte dieser Altersgrup­pe sagt, noch nie Alkohol probiert zu haben.

Für eine Studie der Bundeszent­rale für gesundheit­liche Aufklärung wurden Mitte vergangene­n Jahres rund 7000 junge Menschen zwischen zwölf und 25 Jahren befragt. Experten und die Politik haben die Ergebnisse ausgewerte­t und ihre Schlüsse gezogen. Heißt es vielleicht jetzt „Smoothie statt Schnaps“? Jugendfors­cher Philipp Ikrath meint: „Das Ausschweif­ende ist nicht mehr cool, es geht zunehmend um Leistung.“Er spricht von der Anti-Exzess-Generation. Der Erziehungs­wissenscha­ftler Philipp Ikrath beobachtet auch einen Mentalität­swandel. Jugendlich­en gehe es heute darum, einen gesellscha­ftlich akzeptiert­en Umgang mit Alkohol zu erlernen. Der Rausch sei immer noch das Ziel, aber möglichst einer ohne „Kater“, sozusagen „kontrollie­rter Kontrollve­rlust“.

Was im Umkehrschl­uss heißen kann, dass die Aufklärung­skampagnen langsam Wirkung zeigen. Und das freut die Drogenbeau­ftragte der Bundesregi­erung, Marlene Mortler (CSU), die sich aber längst nicht zufriedeng­ibt und die Debatte anheizen will. Alkohol, sagt sie, sei „ein Nervengift, das nichts Gutes in unserem Hirn macht“.

Die Chronologi­e des Versagens beginnt im Juni 2015. Anis Amri, der in Italien gerade eine vierjährig­e Haftstrafe wegen Brandstift­ung und Körperverl­etzung abgesessen hat, kommt über die Schweiz nach Deutschlan­d, genauer: nach Freiburg. Wenig später lässt er sich in Karlsruhe unter einem ähnlich klingenden Namen als tunesische­r Asylbewerb­er registrier­en, kurz darauf unter einem ägyptische­n Namen in Dortmund noch einmal. Am Ende werden es 14 verschiede­ne Identitäte­n sein, die er benutzt und mit denen er sich Sozialleis­tungen erschleich­t. Doch selbst heute, fünf Monate nach dem Anschlag mit zwölf Toten und 67 Verletzten auf einen Berliner Weihnachts­markt, ist der Fall Amri nicht wirklich aufgeklärt. Dass Beamte im Berliner Landeskrim­inalamt offenbar sogar Akten gefälscht haben, um ihr eigenes Versagen zu vertuschen, ist nur das berühmte Tüpfelchen auf dem i.

Haben Polizei, Justiz und Geheimdien­ste kollektiv versagt? Die einzige Behörde, die sich nichts vorzuwerfe­n hat, ist ausgerechn­et das sonst so umstritten­e Bundesamt für Migration und Flüchtling­e. In der vergleichs­weise kurzen Bearbeitun­gszeit von nur vier Wochen lehnt Amris Asylantrag ab und enttarnt das Doppellebe­n des jungen Tunesiers. „Seine Alias-Namen waren bekannt“, hat die Präsidenti­n der Behörde, Jutta Cordt, vor kurzem in einem Interview mit unserer Zeitung betont. Abgeschobe­n wird er trotzdem nicht – angeblich, weil dafür die Papiere aus Tunesien fehlen.

Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass die Regierung in Tunis zur Ausstellun­g dieser Papiere neben den Fingerabdr­ücken auch einen sogenannte­n Handfläche­nabdruck verlangt, um Amri zweifelsfr­ei zu identifizi­eren. Darum aber kümmert sich in Deutschlan­d wochenlang niemand. Erst als der spätere Attentäter am 30. Juli auf dem Weg von Berlin in die Schweiz von der Bundespoli­zei in Friedrichs­hafen festgenomm­en wird, holen die Behörden dieses Versäumnis nach.

Kurz darauf kommt Amri wieder auf freien Fuß, taucht dann aber unter. Am 17. August 2016 holt er noch einmal Geld beim Sozialamt im nordrhein-westfälisc­hen Emmerich ab, danach verliert sich seine Spur zunächst, so wie sie die Behörden bei seinen ständigen Reisen zwischen Nordrhein-Westfalen und Berlin immer wieder verlieren. Ein Verfahren wegen der Fälschung von zwei italienisc­hen Identitäts­karten, die er bei der Festnahme in Fried- richshafen bei sich hat, wird eingestell­t. Es ist nicht das Einzige: Diebstahl, Falschbeur­kundung, gefährlich­e Körperverl­etzung. Ein Verfahren wegen Drogenhand­els eröffnet die Berliner Staatsanwa­ltschaft gar erst einen Monat nach seinem Tod.

Seit Februar 2016 ist Amri als Gefährder eingestuft. Mal finden Polizeibea­mte, die sein Handy bei einer Kontrolle beschlagna­hmen, Kontakte zu Mitglieder­n des Islamische­n Staates, mal warnt ein V-Mann den Verfassung­sschutz, Amri wolle sich Waffen kaufen und plane einen Selbstmord­anschlag. Mehrfach wird er gefilmt, wie er die Berliner Fussilet-Moschee betritt, einen einschlägi­g bekannten Treffpunkt der Islamisten­szene, auch vom marokkanis­chen Geheimdien­st und aus Tunesien gibt es entspreche­nde Warnungen – der Berliner Verfassung­sschutz aber stellt erst die Observatio­n des Verdächtig­en ein und später auch die Telefonübe­rwachung.

Insgesamt sechsmal beschäftig­t sich auch das Terror-Abwehrzent­rum von Bund und Ländern mit dem Fall Amri, dort aber vertraut man auf den Faktor Zeit: Irgendes wann werden die Papiere schon da sein, um ihn in sein Heimatland abschieben zu können. Spätestens im Oktober jedoch, wird Innenminis­ter Thomas de Maizière nach dem Attentat kritisiere­n, „hätte auf Basis des geltenden Rechts ein Antrag auf Abschiebeh­aft gute Erfolgsaus­sichten gehabt“. Diesen Antrag hätte das Land Nordrhein-Westfalen stellen müssen, das sein Asylverfah­ren geführt hat. Nur: Es stellt ihn nie.

Auch die Chance, Amri beim Verkauf von Drogen in einem Berliner Park zu stellen, verstreich­t ungenutzt. Nach Informatio­nen des

Tagesspieg­el observiere­n ihn zwei Beamte zwar bei seinen Geschäften, nehmen ihn aber nicht fest – und in den Akten des Landeskrim­inalamtes mutiert der gewerbsmäß­ige Drogenhänd­ler plötzlich zum Kleinhändl­er, einem minderschw­eren Fall. Anis Amri, geboren am 22. Dezember 1992 in Tatouine in Tunesien, bleibt ein freier Mann.

Am 19. Dezember 2016 stiehlt dieser Mann einen Lkw und rast mit ihm in den Weihnachts­markt an der Gedächtnis­kirche, vier Tage später wird er auf der Flucht in Italien von der Polizei erschossen. Die Papiere, mit denen Anis Amri hätte ausgewiese­n werden sollen, sind da gerade bei der Ausländerb­ehörde in Köln eingegange­n.

Viele Spuren führen nach Nordrhein Westfalen

 ?? Foto: F. Gaertner, dpa ?? Nur ein Bier statt Vollrausch: Jugendli che trinken weniger.
Foto: F. Gaertner, dpa Nur ein Bier statt Vollrausch: Jugendli che trinken weniger.
 ?? Foto: Sophia Kembowski, dpa ?? Fast jeder Berlin Tourist kennt diesen Ort: Just auf den Treppen des tristen evangelisc­hen Kirchengeb­äudes stellen bis heute Freunde und Angehörige der Opfer des Anschlags am Breitschei­dplatz Kerzen und Fotos auf.
Foto: Sophia Kembowski, dpa Fast jeder Berlin Tourist kennt diesen Ort: Just auf den Treppen des tristen evangelisc­hen Kirchengeb­äudes stellen bis heute Freunde und Angehörige der Opfer des Anschlags am Breitschei­dplatz Kerzen und Fotos auf.

Newspapers in German

Newspapers from Germany