Landsberger Tagblatt

Eine Frage der Schuld

- VON JÖRG HEINZLE joeh@augsburger allgemeine.de

Es ist ein Fall, wie er in den Alpträumen von Eltern vorkommt. Ein fremder Mann geht auf der Straße auf Kinderfang. Er missbrauch­t Kinder, jahrelang unentdeckt. Und er steigert sich, weil er immer tiefer in seiner Gedankenwe­lt versinkt und seine Hemmungen ablegt. Harry S., ein bis zu seiner Enttarnung angesehene­r Kinderarzt, wurde für seine Verbrechen mit einer hohen Strafe belegt. Dreizehnei­nhalb Jahre Haft, dazu Sicherungs­verwahrung. Die Nachricht, dass der Bundesgeri­chtshof dieses Urteil aufgehoben hat, wird bei manchem, der die Justiz kritisch sieht, Kopfschütt­eln auslösen. Ist das nicht erneut ein Beleg für einen viel zu laschen Rechtsstaa­t? Ein Hohn für die Opfer?

Nein. Das ist es mitnichten. Die Verteidige­r haben ein Rechtsmitt­el ausgeschöp­ft, wie es jedem Angeklagte­n in einem Rechtsstaa­t zustehen muss. In den allermeist­en Fällen bleibt es übrigens beim Versuch. Die meisten Urteile halten einer Überprüfun­g stand. Im Fall des Kinderarzt­es gibt es aber zwei Sichtweise­n – die man beide nachvollzi­ehen kann. Dass das Verhalten des Kinderarzt­es im wahrsten Sinne des Wortes „krank“wahr, liegt auf der Hand. Trefflich streiten kann man über die Frage, wie sehr Harry S. noch Herr seines Handelns war.

Fest steht aber auch: Selbst wenn die Richter im neuen Prozess zum Schluss kommen, dass er vermindert schuldfähi­g war, muss er dennoch mit einer langjährig­en Strafe rechnen. Was noch wichtiger ist: Falls die Sicherungs­verwahrung wegfällt und er statt dessen gleich zur Behandlung in eine Klinik kommt, bleibt es dabei. Er kommt erst frei, wenn man ihn für ungefährli­ch hält. Das zeigt: Was die Opfer und die Sicherheit der Bürger angeht, ist die Justiz nicht blind.

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