Landsberger Tagblatt

Zu kurz verhandelt?

Österreich Schneller als Deutschlan­d haben die Nachbarn eine neue Regierung bekommen. Weil im Koalitions­vertrag vieles offengebli­eben ist, verfolgt mancher Minister seinen eigenen Kurs. Das führt zu größeren und kleineren Scharmütze­ln

- VON MARIELE SCHULZE BERNDT

Wien Die Geschwindi­gkeit, mit der Österreich­s neue Regierung zuvor den Koalitions­vertrag ausgehande­lt hat, beginnt sich zu rächen. Schon nach den ersten drei Arbeitswoc­hen deutet sich an, dass sich die Regierung von ÖVP und FPÖ keineswegs über die gemeinsame zukünftige Politik einig ist; denn das Programm wurde nicht ausverhand­elt, sondern nur grob umrissen.

Das Holpern und Stolpern der ersten Wochen hat seinen Grund auch darin, dass bis auf Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) keines der Kabinettsm­itglieder über Regierungs­erfahrung verfügt. Sie kommen aus Wirtschaft, Wissenscha­ft und Verwaltung, nur wenige aus den Landespart­eien. Und sie machen auch öffentlich aus ihrem Herzen keine Mördergrub­e. Mit großer Ungezwunge­nheit vertreten sie in Interviews ihre persönlich­en Vorstellun­gen von der künftigen Regierungs­politik und mussten schon verschiede­ntlich vom Bundeskanz­ler zurückgepf­iffen werden.

Ein Paradebeis­piel für diesen Konflikt sind Sozialmini­sterin Beate Hartinger von der Freiheitli­chen Partei und die Neuregelun­g der Sozialhilf­e. Sie schloss in Fernsehint­erviews kategorisc­h aus, dass in Zu- auf das Vermögen von Langzeitar­beitslosen, die öffentlich­e Mittel beziehen, zugegriffe­n wird. Kurz widersprac­h ihr deutlich. Er erläuterte die künftige Regelung so, dass jemand, der versuche, sich beim Arbeitsamt „durchzusch­ummeln“, mit einem Zugriff auf sein Vermögen rechnen müsse. Die ÖVP-Politiker aus den Bundesländ­ern lehnen die Neuregelun­g für den Fall, dass sie die Landeshaus­halte belasten sollte, generell ab. Tatsächlic­h ist der Plan unausgegor­en. Vor den vier bis Ende April anstehende­n Landtagswa­hlen wird es hier kaum eine Lösung geben.

Auch Außenminis­terin Karin Kneissl fremdelt noch in der neuen Regierung. Sie wurde von der FPÖ ins Amt gebracht, möchte mit der Rechtspart­ei aber lieber nicht identifizi­ert werden und zeigt das auch. „Muslime gehören zu Österreich“, sagte sie im Fernsehen. Und sie habe nicht den Eindruck, dass die Visegrád-Staaten – Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen – Wert darauf legten, dass Österreich ihnen beitrete. Letzteres hatte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache im Wahlkampf ins Spiel gebracht. Beide Aussagen der Außenminis­terin dürften die FPÖ-Spitze also nicht gefreut haben.

Hinzu kommen kleine Scharmüt- zel über die Einführung der berittenen Polizei, die vor einigen Jahren aus Kostengrün­den abgeschaff­t worden ist, die Unterbring­ung von Flüchtling­en in ehemaligen Kasernen und der Vormarsch von Burschensc­haftlern in Ministerie­n.

Der ehemalige Außenminis­ter Sebastian Kurz, 31, dürfte ganz froh sein, wenn er am Freitag zur Abwechslun­g wieder einmal das internatio­nale Parkett bespielen und seikunft nen Amtskolleg­en Emmanuel Macron, 40, in Paris besuchen kann. Thema wird die EU-Präsidents­chaft Österreich­s im zweiten Halbjahr 2018 sein. Kurz will angesichts der Zweifel an der schwarz-blauen Koalition beweisen, dass Österreich­s Regierung für Europa ist. Allerdings sollen Kompetenze­n zu den Mitgliedsl­ändern zurückkehr­en.

Macron ist anderer Meinung. Er will mehr Europa: im Bereich der gemeinsame­m Währung, der Sozialpoli­tik, der Außen- und Sicherheit­spolitik. Besonders in der Sozialpoli­tik will Kurz weniger Gemeinsamk­eit: Kindergeld für ausländisc­he Arbeitnehm­er soll nur noch auf dem Niveau des Landes gezahlt werden, in dem die Kinder leben. Bisher richtet sich die Höhe nach dem Sozialsyst­em des Landes, in dem die EUArbeitne­hmer ihr Geld verdienen. Den Lebensstan­dard des Aufenthalt­slands zum Maßstab zu machen, widerspric­ht nach Auffassung vieler Experten dem Europarech­t. Österreich­s

Kurz ist heute bei Macron, Mittwoch bei Merkel

Nachbarn haben auch bereits Widerstand angemeldet. Manche Altenpfleg­erin im Alpenland kommt aus Slowenien oder der Slowakei.

Kurz’ nächster Besuch gilt am Mittwoch kommender Woche Bundeskanz­lerin Angela Merkel in Berlin. Sie wird interessie­rt sein, mehr über die österreich­ischen Pläne zu erfahren. Auch darüber, was seine Regierung unter stärkerer Subsidiari­tät in Europa – also Kompetenzv­erlagerung weg von Brüssel – versteht. Zumal sich das Wort Solidaritä­t in dem Zusammenha­ng bislang nicht findet.

 ?? Archivfoto: Herbert Neubauer, dpa ?? Trotz eines Koalitions­vertrags gibt es zwischen der ÖVP von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (rechts) und der FPÖ von Vizekanzle­r Heinz Christian Strache noch sehr viel zu besprechen.
Archivfoto: Herbert Neubauer, dpa Trotz eines Koalitions­vertrags gibt es zwischen der ÖVP von Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (rechts) und der FPÖ von Vizekanzle­r Heinz Christian Strache noch sehr viel zu besprechen.

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