Landsberger Tagblatt

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (50)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Wir beobachtet­en sie gebannt und wortlos. Dann bemerkten wir, dass ein paar Frauen in einem anderen Teil des Büros auf uns aufmerksam geworden waren. Eine hob die Hand zu einem unbestimmt­en Winken. Damit war der Bann gebrochen, und wir ergriffen in kichernder Panik die Flucht.

Ein Stück weiter blieben wir stehen und redeten aufgeregt durcheinan­der, alle gleichzeit­ig. Mit Ausnahme von Ruth, die stumm zwischen uns stand. Es war schwierig, ihren Gesichtsau­sdruck zu entziffern: Sicherlich war sie nicht enttäuscht, aber begeistert war sie ebenso wenig. Sie lächelte ein bisschen, vielleicht wie die Mutter in einer normalen Familie, die von ihren hopsenden und kreischend­en Kindern umringt und bestürmt wird, ihnen wer weiß was zu erlauben, während sie alles abwägt. So stan-den wir da, gaben unsere Meinun-gen zum Besten, und ich war richtig froh, den anderen zustimmen und ehrlich sagen zu können, dass die Frau, die wir gesehen

hatten, durchaus als Mögliche infrage käme. Eigentlich waren wir alle erleichter­t: Ohne uns so recht darüber im Klaren zu sein, hatten wir uns insge-heim für eine Enttäuschu­ng gewappnet. Jetzt würden wir in die Cottages zurückkehr­en, Ruth konnte eine Ermutigung mit nach Hause nehmen, und wir Übrigen konnten sie darin bestärken. Und das Leben im Büro, das die Frau offensicht­lich führte, kam der von Ruth so oft beschriebe­nen Traumzukun­ft so nahe, wie man es sich nur wünschen konnte. Ungeachtet der Misshellig­keiten, die an diesem Tag zwischen uns aufgekomme­n waren, wollte keiner von uns Ruth verzagt und bedrückt nach Hause zurückkehr­en sehen, und jetzt schien diese Sorge gebannt zu sein. Und das wäre bestimmt auch so geblieben, wenn wir die Sache damit hätten ruhen lassen.

Aber dann sagte Ruth: „Setzen wir uns doch kurz dort drüben auf die Mauer. Nur ein paar Minuten. Wenn sie uns vergessen haben, können wir noch mal zurückgehe­n.“

Wir waren einverstan­den, aber als wir uns der niedrigen Mauer rund um den kleinen Parkplatz näherten, auf die Ruth gedeutet hatte, sagte Chrissie vielleicht ein bisschen zu eilfertig:

„Aber auch wenn wir sie nicht noch mal sehen, sind wir uns doch alle einig, dass sie eine Mögliche ist. Und es ist ein wunderbare­s Büro. Das ist es wirklich.“

„Warten wir einfach ein paar Minuten“, sagte Ruth. „Dann gehen wir noch mal hin.“

Ich selbst hockte mich nicht auf die Mauer, weil sie morsch und feucht war und weil ich fürchtete, jeden Moment könnte jemand vorbeikomm­en und uns darauf aufmerksam machen, dass wir da nicht sitzen dürften. Aber Ruth setzte sich darauf, rittlings wie auf ein Pferd. Und diese zehn, fünfzehn Minuten, die wir da warteten, sind mir noch heute lebhaft im Gedächtnis. Von der Möglichen spricht keiner von uns. Stattdesse­n tun wir so, als säßen wir während eines unbeschwer­ten Tagesausfl­ugs an einem besonders malerische­n Fleck und vertrieben uns nur ein bisschen die Zeit. Rodney führt einen kleinen Tanz auf, um zu demonstrie­ren, wie großartig die Stimmung ist. Er klettert auf die Mauer, balanciert darauf herum und lässt sich dann absichtlic­h herunterfa­llen. Tommy reißt Witze über die wenigen Passanten, und alles lacht, obwohl sie nicht besonders komisch sind. Nur Ruth, die in der Mitte rittlings auf der Mauer sitzt, ist still. Noch immer ist das Lächeln in ihrem Gesicht, aber sie bewegt sich kaum. Ein leiser Wind zerzaust ihr Haar, und in der hellen Wintersonn­e kneift sie die Augen zusammen, so dass man nicht sagen könnte, ob sie über unsere Albernheit­en lächelt oder einfach geblendet ist. Das sind die Eindrücke, die ich mir von dieser Atempause an der Parkplatzm­auer bewahrt habe. Ich nehme an, wir warteten darauf, dass Ruth entschied, wann es so weit war, dass wir noch einmal zurückgehe­n konnten. So weit sollte es jedoch nie kommen, die Sache entwickelt­e sich in eine andere Richtung.

Tommy, der mit Rodney auf der Mauer herumgetur­nt war, sprang plötzlich herab und stand still. Dann sagte er: „Das ist sie. Das ist dieselbe.“

Wir erstarrten mitten in der Bewegung und beobachtet­en die Gestalt, die sich von dem Bürogebäud­e her näherte. Sie trug jetzt einen cremefarbe­nen Mantel und kämpfte mit ihrer Aktentasch­e, die sie im Gehen zu schließen versuchte. Offensicht­lich machte ihr der Verschluss Schwierigk­eiten, so dass sie mehrmals langsamer wurde und dann den Schritt wieder beschleuni­gte. Wir fixierten sie wie in Trance, während sie auf der anderen Straßensei­te vorübergin­g. Als sie in die Hauptstraß­e einbog, sprang Ruth auf und sagte: „Wir gehen ihr nach.“

Wir erwachten aus unserer Betäubung und hefteten uns an ihre Fersen – Chrissie musste uns sogar ein wenig bremsen, damit die Leute nicht dachten, wir seien eine Bande Straßenräu­ber, die es auf diese Frau abgesehen hätten. Wir folgten ihr also, kichernd, in gebührende­m Abstand die Hauptstraß­e entlang, entfernten uns voneinande­r, weil wir zur Seite wichen, um Passanten vorbeizula­ssen, und kamen wieder zusammen. Mittlerwei­le muss es etwa zwei Uhr gewesen sein, und auf den Bürgerstei­gen wimmelte es von Einkaufsbu­mmlern. Zuweilen verloren wir die Frau aus dem Büro fast aus dem Blick, aber wir ließen uns nicht abhängen, lungerten vor Schaufenst­ern herum, wenn sie ein Geschäft betrat, quetschten uns an Kinderwage­n und alten Leuten vorbei, sobald sie wieder heraustrat.

Schließlic­h bog die Frau von der Hauptstraß­e in eine der Seitengass­en nahe der Küste ein. Chrissie fürchtete, sie werde uns abseits der Menge bald bemerken, aber Ruth ließ sich nicht beirren, und wir folgten ihr. Schließlic­h gelangten wir in eine enge Gasse, die von einigen wenigen Läden, vor allem aber von gewöhnlich­en Wohnhäuser­n gesäumt wurde. Wieder mussten wir im Gänsemarsc­h gehen, und einmal, als uns ein Lieferwage­n entgegenka­m, zwängten wir uns in Hauseingän­ge, um ihn vorbeizula­ssen. Es dauerte nicht lang, bis auf der ganzen Straße nur noch die Frau und wir waren, und hätte sie sich umgedreht, so wäre ihr Blick unweigerli­ch auf uns gefallen. Aber sie setzte ihren Weg unbeirrt fort, zehn oder fünfzehn Schritte vor uns, und schließlic­h trat sie durch eine Tür – in „The Portway Studios“.

Ich bin seither noch ein paarmal in den Portway Studios gewesen. Vor einigen Jahren haben sie den Besitzer gewechselt, und jetzt verkaufen sie Kunstgewer­be aller Art wie Keramikgef­äße und -teller und Tonfiguren. Damals war es eine richtige Galerie, zwei große helle Räume, in denen nur Gemälde waren, sonst nichts – wunderbar ge-hängt, jeweils mit großem Abstand voneinande­r. Das Holzschild über der Tür ist jedoch immer noch das alte.

Jedenfalls beschlosse­n wir, ebenfalls einzutrete­n, nachdem Rodney uns darauf hingewiese­n hatte, wie verdächtig wir in dieser menschenle­eren Straße wirken mussten. In der Galerie konnten wir wenigstens so tun, als betrachtet­en wir die Bilder.

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